Anfang 2021 befindet sich Deutschland im Aufbruch. Trotz Corona. Woran wir das erkennen? Der langjährige Gassenhauer „wir wollen mal was tun“ ist inzwischen von „wir haben den festen Willen“ abgelöst worden. Gefolgt von irgendwas, was mit Zukunft, Veränderung oder Digitalisierung zu tun hat. Na immerhin. Apropos Digitalisierung, um die Erwartungen des Gegenübers zum Ausmaß der Aktivitäten im Keim zu dämpfen, folgt bereits im Nachsatz die Relativierung auf dem Fuß: „Wobei wir bei der Digitalisierung schon sehr weit sind.“ Soso…
Dabei gilt für die Digitalisierung, was für alle Buzzwords gilt. Je mehr in aller Munde, desto unterschiedlicher ist das, was die jeweiligen Sprecher darunter verstehen. Wir wollen deshalb eine praktische Übersicht erstellen, was die Digitalisierung umfasst, nicht zuletzt, um einen Maßstab zu finden, den Fortschritt zu messen.
Stufe 1 ERP-System
Früher wurden Aufträge manuell erfasst, die Daten, die bei der Bearbeitung entstehen, situativ erstellt und gespeichert und jede Auslieferung individuell organisiert und vollzogen. Für viele kleinere Unternehmen gilt das noch heute. Ab den 80er Jahren verbreiteten sich ERP-Systeme, um alle Auftragsdaten durchgängig nutzbar zu machen. Diese Stufe sei nur erwähnt, weil sich heute viele Unternehmen einen Aufschub verschaffen, indem sie zunächst ihr vorhandenes ERP-Sytem durch ein neues ersetzen.
Stufe 2 Das papierlose Büro
Derzeitiger Hot-Spot der Digitalisierung ist in der öffentlichen Wahrnehmung das Scannen und elektronische Speichern von Belegen und Dokumenten. Alle manuellen Handlungen sollen möglichst an einem Computer oder digitalen Handgerät ausgeführt werden. „Wir haben kaum noch Akten“, heißt es dann. Selbst wo eine transparente und flexible Einsicht wünschenswert wäre, wird die digitale Erfassung zum Selbstzweck erklärt. Und während an der Schnittstelle zum Menschen keine Kompromisse gemacht werden, bleiben die eigentlichen Arbeitsweisen unverändert und wird manches Dokument mehrfach gescannt.
Stufe 3 Mitarbeiter entwickeln
Die Stufen 4+5 beschäftigen sich mit dem Umbau unseres Geschäftes. Das lässt sich zwar anfangs mit einem kleinen Team beginnen, wird aber zunehmend ressourcenintensiv. Deshalb müssen wir unsere Mitarbeiter zur Weiterentwicklung ermutigen, von Verschwendung befreien und ihnen Freiräume verschaffen, sich mit ihrer eigenen Weiterentwicklung zu beschäftigen. Denn immer mehr Tätigkeiten werden automatisiert, und es kommt nicht mehr darauf an, tagtäglich dieselben Handlungen zu wiederholen, sondern den Umbau zu gestalten und Prozesse und Systeme zu administrieren. Dabei sind ganz andere Kompetenzen gefragt als bisher. Die es leider auch am Markt kaum gibt. Stufe 3 ist deshalb praktisch alternativlos.
Stufe 4 Totale Automatisierung
Sind wir die ersten Schritte gegangen, hinterfragen wir systematisch, wie wir was tun, und nutzen alle technischen Möglichkeiten. Für den Betrieb unserer IT ebenso wie für unsere Wertschöpfung selbst. Wir beseitigen jede Vielfalt und Ausnahmen unseres Handelns, scannen permanent die Softwaremärkte, testen Werkzeuge, fügen sie in unseren Software-Fuhrpark ein, stellen den Datentransport zwischen den Systemen sicher und machen es den Mitarbeitern schmackhaft, die neuen Werkzeuge zu nutzen. Diese Stufe wird mit jeder neuen Technik und jedem neuen Softwareangebot neuen Treibstoff erhalten und nie enden. Auf dieser Stufe gymnastizieren unsere Mitarbeiter ihre Veränderungskompetenz.
Stufe 5 Das neue Geschäft
Im globalen Wettlauf um große Stückzahlen sind wir gut beraten, unser bisheriges Geschäft zu hinterfragen. Uns auf das zu konzentrieren, womit wir am erfolgreichsten sind. Und diese Leistungen mit einem überschaubaren Baukasten standardisierter Teile, Maschinen oder Kompetenzen zu erbringen. Um herauszufinden, was das ist, dürfen wir gerne experimentieren.
Wissen wir erst, wo wir hinwollen, gib es verschiedene Trends, die unsere schnelle Weiterentwicklung unterstützen. Zum einen gibt es nahezu unzählige technische und Verfahrensinnovationen, die unsere bisherigen Produkte vergünstigen, ergänzen, verbessern oder ersetzen. Plattformen, Internet und Übersetzungssoftware ermöglichen ein internationalisiertes Angebot (wobei wir die Komplexität des Einsatzes von bis zu 29 Sprachen bei einem globalen Auftritt nicht unterschätzen sollten). Die Angleichung der Lebensverhältnisse und Werkzeuge sowie das Internet ermöglichen die universelle Kooperation mit Dienstleistern (outsourcing), wo immer sie Teil-Leistungen oder Produkte mindestens ebenso schnell, kostengünstig und innovativ erbringen wie wir.
Seien wir ehrlich, wer seine Dienstleistungen heute noch mit dem Slogan „wir machen alles“ bewirbt, sagt damit zugleich „wir garantieren absolute Handarbeit bei niedrigst möglicher Wiederholhäufigkeit.“ Nur wer sich als Kunde nicht daran stört, den doppelten Preis des möglichen zu zahlen, bleibt hier weiterhin gut aufgehoben.
Sind wir an diesem Punkt angekommen, hat sich unsere Welt komplett verwandelt. Wir bieten ein festes Produktspektrum. Wo immer gesetzlich-kulturell sinnvoll, überregional. Der Kunde kann bequem, standardisiert und mit wenigen Mausklicks oder nach einem kurzen Beratungsgespräch (idealerweise nicht schwieriger oder länger, als ein Besuch bei McDrive dauern würde) bestellen. Während er so kurz wie möglich wartet, werden seine Erwartungen laufend verlässlich gesteuert. Die Lieferung oder Leistungserbringung fügt sich naht- und geräuschlos in seine Planungen ein und wird hoffentlich mit einer 5-Sterne-Bewertung quittiert.
Insbesondere aber generieren wir viel höhere Umsätze mit viel weniger eigenen Mitarbeitern. Deshalb können wir an der Wertschöpfung pro Mitarbeiter messen, wie weit wir bereits mit dem Veränderungsprozess fortgeschritten sind. Im direkten Vergleich eines klassischen deutschen Unternehmens mit einem internationalen Digital-Startup betrug 2019 der Faktor 2,8 (500.000 Euro vs. 175.000 Euro). Natürlich hängt das auch vom Handarbeitsgrad ab. Aber selbst beim klassischen Handwerksbetrieb lässt sich ein Faktor von über 1,5 erreichen. Neben der Wertschöpfung schlägt sich die Veränderung auch in den Produktkosten (Reduzierung auf etwa 50%) sowie im Firmengewinn nieder, der sich zwischen 15 und 25% bewegen wird. Abzüglich dessen, was wir in die weitere Entwicklung stecken. Bei dem Potential wird klar, warum wir vom festen Willen besser gleich zum Machen kommen.
P.S. Dieser Artikel bildet die Möglichkeiten des Jahres 2015 und die praktische Wirklichkeit in 2021 ab. Er wird sich im Verlauf der nächsten Monate entwerten und spätestens ab dem Jahr 2023 als grob verharmlosend belächelt werden.
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