Vor diesem Beitrag wollte ich herausfinden, wann der Begriff „Fachkräftemangel“ überhaupt entstanden ist. Vergeblich. Er kursiert seit Jahren und ist inzwischen so universell akzeptiert, dass er bei keinem Business-Gespräch und keiner Key-Note fehlen darf.
Vermutlich geht der Begriff auf die Diskussionen zum demographischen Wandel zurück. Daraus lässt sich ja ein Rückgang der Zahl der aktiven Erwerbstätigen in der Zukunft ableiten. Dass wir über (EU-) Zuwanderung und die Verberufstätigung neuer Bevölkerungsgruppen die Zahl der Erwerbstätigen alleine in den letzten 10 Jahren um 5% oder 2,5 Mio. gesteigert haben, geschenkt. Dass wir gleichzeitig darüber sprechen, die Hälfte aller Jobs im Zuge der fortschreitenden Automatisierung bis 2030 zu verlieren, ebenfalls geschenkt.
Wenn es also mathematisch gar keinen Erwerbstätigenmangel gibt, was bleibt dann vom Phantom des Fachkräftemangels überhaupt übrig? Schauen wir uns mögliche Thesen an:
- Die im Zuge der Digitalisierung geringere Zahl neuer und eher anspruchsvoller Jobs kann von den Menschen, die an anderer Stelle durch Wegfall ihrer bisherigen Arbeitsplätze frei werden, nicht besetzt werden. Dann hätten wir es streng genommen mit einer Weiterbildungskrise zu tun. Nach allem, was wir über die Menschen wissen, sind sie immer darum bemüht, neue Herausforderungen anzunehmen, wenn man sie nur lässt und es ihnen auch zutraut. Wäre es nicht so, würden wir noch immer in Höhlen hocken und Keulen schwingen. Sobald wir also unsere Entwicklungsbemühungen verstärken und den Menschen neue Aufgaben geben, werden sie ihren Weg gehen.
- Mit dem Verlust aller wiederkehrenden Tätigkeiten an Computer und Roboter wird die Kreativität das Kommando übernehmen. Wenn wir auf diese Welt mit den organisatorischen Antworten der Vergangenheit und dem blinden Vertrauen auf Prozesse reagieren, werden wir Missverständnisse, endlose Abstimmungen und Chaos ernten und sehr viel mehr Arbeitsstunden und Mitarbeiter brauchen als früher, d.h. die Produktivität wird sinken. Diesen Zustand werden Firmen entweder organisatorisch überwinden oder sie werden kurz- mittelfristig aus dem Leben scheiden. Was beides die Fachkräftesituation wieder entspannen wird.
- Eine Menschlichkeitskrise könnte dazu führen, dass sich immer mehr Erwerbstätige selbständig machen, um flexibel zu arbeiten und ihre Ideen zu verfolgen, statt in festen Beschäftigungsverhältnissen zu „dienen“. Das muss in Summe kein Problem sein, wenn wir bereit sind, kooperativ in Netzwerken zu agieren und auf flexibler Basis ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Dafür müssen wir uns nur vom Gedanken klassischer Beschäftigung lösen. Wenn wir das positiv sehen, können wir damit sogar unsere Fixkosten variabilisieren und unsere geschäftliche Entwicklung beschleunigen.
- Großunternehmen entziehen mit üppigen Abfindungen und Vorruhestandsregelungen dem Arbeitsmarkt große Mengen an Fachkräften. Es ist davon auszugehen, dass viele dieser Menschen auf die eine oder andere Art in eine Beschäftigung zurückkehren, sobald sie erst einmal gemerkt haben, wie unbefriedigend es ist, die verbleibenden 40 (!) Jahre Lebenszeit auf dem Sofa zu verbringen. Und wie einfach es heute ist, einen Erfahrungsschatz zu Geld zu machen.
Ja, vielleicht stehen nicht mehr dieselben Menschen bei uns Schlange, wenn wir sie auf dieselbe Art wie immer suchen und ihnen dasselbe bieten, was wir immer geboten habe (besser noch Mindestlohn). Aber das ist eine ganz normale Begleiterscheinung des Wandels und ein Zeichen, dass wir kreativ werden müssen. Wenn wir uns erst einmal dafür entscheiden, uns als Firmen weiterzuentwickeln, uns um Produktivität und Automatisierung zu bemühen, uns gemeinsam mit unseren Mitarbeitern neuen Aufgaben und der Weiterentwicklung zu stellen und im Wettbewerb um Arbeitskräfte neue Wege zu gehen, werden wir den Fachkräftemangel als Märchen entlarven und für uns auflösen.
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