Endstation Zombifizierung
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Keine Wertschöpfung
7. November 2020

Als geüb­ter Macher beschäf­ti­ge ich mich auch bei mei­ner Arbeit häu­fig mit dem Erle­di­gen von Auf­ga­ben. Eine Kunst, der weit weni­ger Auf­merk­sam­keit geschenkt wird, als dem blu­mi­gen Dis­ku­tie­ren, Ver­ta­gen, Wei­ter­ge­ben, Wie­der­käu­en und Sam­meln von Aufgaben.

Im Ergeb­nis ersti­cken 99,9 Pro­zent unse­rer Zeit­ge­nos­sen in ihren sor­tier­ten, prio­ri­sier­ten und ver­schie­den­far­big mar­kier­ten Auf­ga­ben­ber­gen, kla­gen über Kapa­zi­täts­män­gel, gar­niert mit einer Viel­zahl Ent­schul­di­gun­gen, Erklä­run­gen und Absichts­be­kun­dun­gen. Das ist so nor­mal gewor­den, dass sie nicht mal mehr auf die Idee kom­men, es könn­te anders sein oder einen Aus­weg, eine Ret­tung vor dem Ersti­cken geben.

Aber natür­lich gibt es ihn und ich will sei­ne Zuta­ten an die­ser Stel­le beschrei­ben. Sehr gefal­len hat mir das Zitat, das vom Dalai Lama stam­men soll, nach dem es nur an zwei Tagen im Jahr nicht mög­lich sei, etwas zu tun, der eine hei­ße „ges­tern“, der ande­re „mor­gen.“ Kor­rekt. Denn nur heu­te kön­nen wir tat­säch­lich gestal­ten, ent­schei­den, han­deln. Wir müs­sen uns nur Zeit neh­men und den fes­ten Wil­len haben, etwas zu erle­di­gen oder zu verändern.

Dabei ach­ten wir bes­ser dar­auf, kei­nes­falls nur über etwas zu spre­chen, etwas zu prü­fen oder zu recher­chie­ren. Genau­ge­nom­men sind wir erst mit einer Auf­ga­be fer­tig, wenn die Rea­li­tät hin­ter­her anders ist als vor­her. Weil wir idea­ler­wei­se etwas bestellt, gelie­fert, ver­kauft oder weg­ge­wor­fen haben, einen Text ver­fasst oder eine Aus­wer­tung erstellt, min­des­tens aber eine Ver­ein­ba­rung umge­setzt haben, nach der wir ab sofort anders zusam­men­ar­bei­ten, oder eine Fra­ge­stel­lung so beant­wor­tet haben, dass alle wei­ter­ma­chen können.

Das klingt ja eigent­lich ganz ein­fach, war­um tun sich dann so vie­le Men­schen trotz­dem so schwer, vor­an­zu­kom­men? Genau bese­hen, weil sie selbst bei aus­rei­chend Zeit und kla­rem Wil­len kunst­voll begin­nen, sich immer tie­fer zu ver­stri­cken. In ver­meint­li­cher Cle­ver­ness und Per­fek­ti­on. Was am Ende zum per­fek­ten Tod führt. „Tod“ des­halb, weil wir etwas, das sich nicht mehr bewegt, als „tot“ bezeich­nen. Und in die­sen Fäl­len bewegt sich tat­säch­lich über­haupt nichts mehr, kei­nen mü (µ). Was ver­bleibt, ist trak­ti­ons­lo­ses Geflatter.

Denn bei unse­ren Auf­ga­ben ver­su­chen wir nicht, die Fäden so zu ent­tüdd­len, dass jeder ein­zel­ne Kno­ten völ­lig eigen­stän­dig und ohne Abhän­gig­kei­ten vor uns liegt, so dass wir ihn sofort lösen könn­ten. Statt­des­sen ver­knüp­fen wir mit der Aus­sicht auf einen klei­nen und weit ent­fern­ten Vor­teil vir­tu­os meh­re­re oder gar eine Viel­zahl von Fra­ge­stel­lun­gen, ganz so als wür­den wir kraft­voll von bei­den Enden an einem Kabel­knäu­el zie­hen. Dann ste­hen wir zwei­felnd davor, ob wir das je wie­der auf­ge­löst bekommen.

Dabei reicht es bereits, eine Hand­lung mit einer zwei­ten zu ver­knüp­fen, um eine Ver­schie­bung um vier bis fünf Tage zu errei­chen: Den Brief brin­ge ich weg, wenn ich die Tage zum Ein­kau­fen in die Stadt fah­re. Um mir einen Weg zu spa­ren. Ihre Lie­fe­rung kön­nen wir erst dann sen­den, wenn wir eine LKW-Ladung voll haben. Um Trans­port­kos­ten zu sen­ken. Natür­lich, das habe ich mir schon gedacht.

Gold­ratt hät­te das wohl Lokal­op­ti­mie­rung genannt. Wenn wir mit einer not­wen­di­gen Beschaf­fung war­ten, bis der Mehr­wert­steu­er­satz gesenkt ist. Oder etwas erst ent­schei­den kön­nen, wenn alle, aber auch alle Betei­lig­ten anwe­send, vor­be­rei­tet und ent­schei­dungs­wil­lig sind. Oder erst wenn der Erfolg unse­rer Ent­schei­dung sicher(er) erscheint. Wenn wir mit der Digi­ta­li­sie­rung war­ten, bis unser ERP-Hersteller den nächs­ten Schritt geht, wir geeig­ne­te neue Mit­ar­bei­ter gefun­den haben und der aktu­el­le Auf­trags­boom abge­ar­bei­tet ist. Andau­ernd fin­den wir Grün­de, war­um spä­ter ein viel bes­se­rer Zeit­punkt für die Hand­lung ist. Oder wel­che Neben­be­din­gun­gen die per­fek­te Lösung eben­falls noch erfüllt. Das Ergeb­nis? Der eier­le­gen­de Wollmilchtod.

Soll­te jemand tat­säch­lich die Nase voll haben, sei­ne Zeit der­art wir­kungs­los in Dis­kus­sio­nen und Geflat­ter auf­ge­hen zu sehen, dann sei ihm gera­ten, sich eine belie­bi­ge hart­nä­ckig pro­kras­ti­nie­ren­de Fra­ge­stel­lung vor­zu­neh­men. Sie sich genau­er anzu­schau­en und von jeder Art Abhän­gig­keit zu befrei­en bis sie nackt und unab­hän­gig vor uns liegt. Dekom­po­nie­ren, in die Ein­zel­tei­le zer­le­gen, wür­den die Ster­ne­kö­che das nennen.

Dann stel­len wir uns ein­fach vor, die Auf­ga­be müs­se oder kön­ne nur heu­te getan oder ent­schie­den wer­den. Und ver­wen­den nur Infor­ma­ti­on und Zuta­ten, die heu­te ver­füg­bar sind. Wenn wir die Mei­nung von jeman­dem benö­ti­gen, der nicht ver­füg­bar ist oder ande­re Prio­ri­tä­ten hat, erset­zen wir ihn durch jeman­den anderes.

Igno­rie­ren wir alle Gedan­ken der Art „aber dann zah­le ich mehr“ oder „aber dann kann ich das nicht mehr dafür ver­wen­den“ oder „aber dann muss ich da zwei­mal hin­fah­ren“. Das mag vor­der­grün­dig klei­ne Nach­tei­le bedin­gen, wird aber durch den Fort­schritt bei wei­tem überkompensiert.

Selbst wenn uns das nicht bei jeder Auf­ga­be gelingt, mit jeder ein­zel­nen Lösung ver­schwen­den wir weni­ger Zeit und wird die Men­ge offe­ner Fra­gen immer klei­ner und über­sicht­li­cher. Wäh­rend die Zahl der Erfol­ge steigt. Und selbst wenn die Lösun­gen mal nicht per­fekt sind, stö­ren wir uns nicht dran, wir wis­sen ja, dass sie das rück­bli­ckend betrach­tet nie­mals sind.

Wenigs­tens leben wir wieder.

Was für ein Gewinn.

 

 

Bild: unsplash.com; Eli­jah O‘Donnell

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