46 Stück Content – da ist die Flut

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Es ist nicht lan­ge her, da haben wir uns ent­schul­digt, wenn wir jeman­den ange­sto­ßen haben. Sor­ry, tut mir leid, haben wir gesagt. Ganz gene­rell gal­ten Anstö­ße als anstö­ßig. Schon vom Wort­sinn her. Heu­te, in einer über­er­reg­ten Zeit ist es total ange­sagt, sich gegen­sei­tig Anstö­ße zu geben. Denk­an­stö­ße. Und sich gegen­sei­tig für die Inspi­ra­ti­on zu loben. Die klei­nen Schub­ser lau­ern inzwi­schen über­all, in Whatsapp-Nachrichten, Pos­tings, Zita­ten, Film­chen, Web­i­na­ren und Online-Kursen. Nicht zuletzt des­halb, weil Meta-Influencer emp­feh­len, ganz vie­le von ihnen zu erzeu­gen, um auf­zu­fal­len und um erfolg­reich zu sein. Ich hel­fe Dir, 46 Stück Con­tent am Tag zu pro­du­zie­ren, habe ich neu­lich gele­sen. Wow, was für eine Leistung.

Und auf der ande­ren Sei­te wer­den die Anstö­ße kon­su­miert wie Dro­gen. Kur­ze inten­si­ve Hor­mon­spit­zen, von denen eine die ande­re jagt, im nicht enden­den Strom der Nach­rich­ten. Kann ja gar nicht anders sein, rein mathe­ma­tisch mei­ne ich. Wenn immer mehr und bald schon ein paar 100 Mio. Men­schen auf die Idee kom­men, 46 Stück Con­tent am Tag zu pro­du­zie­ren. Spea­k­er, Inspi­ra­to­ren, Coa­ches und all die ande­ren bes­ser Wis­ser unse­rer Zeit. Mil­li­ar­den, Bil­lio­nen. Was kommt noch­mal danach? Wenn am Ende noch die Werk­tä­ti­gen ihre täg­li­che Arbeit fil­men und tei­len, dann ist sie da, die tota­le Flut, die alles ver­tilgt: Schaut mal, Leu­te, so haben wir heu­te früh eine Leis­te mon­tiert. Mit zwei Schrau­ben und einem Akku­schrau­ber. Krrks, RAM over­flow error ahead.

Und der Nut­zen von all dem? Zuneh­mend abneh­mend. Das liegt schon dar­an, dass wir immer mehr die­sel­ben Zita­te oder The­sen hin und her schie­ben. So wie wir frü­her die dop­pel­ten Fußball-Sammelbildlichen in end­lo­sen Tausch­ket­ten umher­ge­scho­ben haben. Und dar­an, dass die Anstö­ße immer seich­ter wer­den. Wie die Preis­aus­schrei­ben im Fern­se­hen. Ruf an und sag das Wort „Gewinn­spiel“ und mit ein biss­chen Glück gewinnst Du eine Mio. Euro. Muss ja auch so sein, bei der Men­ge an Schub­sern. Denn nach einem Tag der Ver­än­de­rungs­ar­beit mit Men­schen, da bleibt mir viel­leicht ein Zitat. Oder EIN neu­er Gedan­ke. Den ich nur des­halb toll fin­de, weil er da ist, wo vor­her nichts war. Meist ist es aber mehr ein Pro­zess, der sich über Wochen erstreckt und an des­sen Ende ich den­ke, ok, das kannst Du ver­öf­fent­li­chen. Ähn­lich war es übri­gens mit die­sem Arti­kel, des­sen Frag­men­te mir über Wochen immer wie­der Modell ste­hen muss­ten. Aber das nur ganz neben­bei. Mal ehr­lich, 46 gute, neue Gedan­ken, die es wert wären, ande­ren erzählt zu wer­den? Ganz ehr­lich? No f***ing chan­ce. Never ever, Mr. Jones.

Am meis­ten jedoch speist sich die Nutz­lo­sig­keit der Stoße­rei dar­aus, dass wir vor lau­ter Anstö­ßen gar kei­ne Zeit haben, sie zu reflek­tie­ren, ein­zu­ord­nen oder aus­zu­pro­bie­ren. Ja, genau, im ech­ten Leben anwen­den und gucken, was pas­siert. Ja, ja, das muss Du schon machen, wenn Du was ler­nen willst. Denn alles was wir nicht in einen Kon­text set­zen, was sich nicht ver­netzt und damit nicht zu ver­än­der­tem Han­deln füh­ren kann, ist von nahem bese­hen schlicht wert­los. Kommt und geht. Purer Kon­sum. Ein Rausch. Der erin­nert schon ein wenig an das, was wir frü­her „Pogo tan­zen“ nann­ten. Eine Viel­zahl schwit­zi­ger Kör­per hüpft durch­ein­an­der und stößt sich gegen­sei­tig an. Sinn­los, plan­los, eben­so vor­freu­dig wie zugleich ängst­lich erregt. Immer in der Aus­sicht ande­re eben­so schmerz­haft zu rem­peln, wie man sel­ber gerem­pelt wird. Wür­de jemand behaup­ten, dabei jemals was gelernt zu haben? Außer viel­leicht ande­re so zu schub­sen, dass sie uns mit schmerz­ver­zerr­ten Augen anstarren?

Und wo die vie­len ver­nünf­ti­gen Stim­men und wert­vol­len Gedan­ken immer mehr im Gebrab­bel ver­sin­ken, tra­gen wir das Risi­ko, dass uns Juwe­len, wirk­lich wert­vol­le Impul­se nicht mehr errei­chen und unse­re Wei­ter­ent­wick­lung dar­un­ter lei­det. Weil wir uns abschir­men, unse­re Anten­nen ein­fah­ren, weg­schau­en oder in die rea­le Welt zurück­zie­hen. Des­halb heißt es, sich wie­der gezielt auf die Suche nach der pas­sen­den Hil­fe für unse­re nächs­ten Schrit­te zu machen, bis zu dem Tag, an dem das Ver­brei­ten von Denk­an­stö­ßen kos­ten­pflich­tig wird, oder er end­lich erfun­den wird, der „Denkanstoß-Filter“.

Bild: unsplash.com, Action Vance

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