Wir haben uns bereits in einem anderen Artikel damit beschäftigt, dass Lean-Prinzipien bzw. die effektivsten Lösungen mitunter nicht intuitiv sind. Heute wollen wir dort anknüpfen und einen weiteren Irrglauben entlarven. Nämlich den, dass wir uns mit der Verlängerung der Lieferzeiten die Planung erleichtern könnten. Schauen wir uns das Problem mit den Lieferterminen Schritt für Schritt an:
- Die notwendige Synchronisation
Zunächst müssen wir berücksichtigen, dass die Lieferzeit, zu der wir uns verpflichten, nie das unterschreiten darf, was physikalisch möglich ist. Klingt Trivial? Versuchen die allermeisten Firmen aber immer noch (bis hin zu DAX-Konzernen). Mit verheerenden Folgen. Etwa 20% des gesamten Personalaufwandes entsteht durch manuelle Planung, Meldungen, Umplanung, Arbeit neben dem System und die erforderlichen Korrekturen.
Bei Dienstleistern wird die Untergrenze des Möglichen durch die Summe der eigenen Tätigkeiten und ihrer jeweiligen Prozesszeiten dominiert, bei produzierenden Unternehmen kommen die Beschaffungszeiten der Einsatzmaterialien hinzu. Lieferzeiten hängen also regelmäßig vom jeweiligen Produkt ab und sollten deshalb auch pro Produkt ermittelt werden. Sie können nur unterschritten werden, indem der Dienstleister oder seine Vorlieferanten ihre eigenen Prozesszeiten reduzieren oder einer der Beteiligten Sicherheitsbestände aufbaut, aus denen kurzfristigere Bedarfe bedient werden können.
Hierzu können dann noch Liegezeiten addiert werden, um das zu ermitteln, was dem Kunden als Liefertermin mitgeteilt wird. Wichtiger ist: Wann immer kürzere Zeiten als diese gewählt werden, kann das physikalisch nicht funktionieren, und es gibt nur doch die Wahl zwischen Zeitmaschine und Chaos. Insgesamt ist jede Aktivität zur Synchronisierung der Lieferzeiten höchst wichtig und produktivitätssteigernd.
- Der Denkfehler
Selbst, wenn Firmen ihre Lieferzeiten systematisch ermitteln, erleben sie weiterhin viel Unruhe und Aufwand bei der Planung ihrer Produktion. Dann keimt bei ihnen der intuitive Gedanke, die Situation verbessern zu können, indem sie ihre Lieferzeiten verlängern. Damit sie mehr Vorlauf haben und ihnen mehr Zeit zum Planen zur Verfügung steht. Ein sehr einleuchtender Gedanke.
Leider stimmt er nicht. Zum besseren Verständnis stellen wir uns ein vereinfachtes Beispiel vor: eine Firma mit nur einem Produktionsplatz produziert jeweils einen Auftrag pro Tag. Ihre aktuelle Lieferzeit beträgt 3 Tage (plus Versandzeit, die wir ausblenden). Entsprechend plant sie jeweils die nächsten drei Tage ihrer Produktion. D.h. zu jedem Zeitpunkt sind drei Produktionsaufträge fest einem Produktionstag zugeordnet und die jeweiligen Termine den Kunden bestätigt worden. Jeder neu hereinkommende Auftrag – ebenfalls einer pro Tag – wird ab Tag 4 angehängt.
Nun hat der Produzent die Idee, mehr Zeit für die Planung zu gewinnen und deshalb seine Lieferzeiten auf 10 Tage zu erhöhen. Dabei sei vereinfachend angenommen, dass seine Kunden damit einverstanden sind. Nach einer Anlaufzeit sind dann stets die Aufträge für die nächsten 10 Tage geplant. Jeder weitere eintreffende Auftrag wird ab Tag 11 angehängt.
Visualisiert sieht das so aus:
Vordergründig stehen nach der Änderung 7 Tage mehr zur Verfügung, um alles zusammenzubringen, was es zur pünktlichen Produktion braucht.
- Mehr Planungsaufwand durch mehr Eilaufträge
Durch die Verlängerung der Lieferzeiten sinkt aber die Flexibilität für den Kunden. Entweder passt er sich mit zusätzlichen Sicherheitsbeständen oder seinerseits längeren Lieferzeiten an die neuen Gegebenheiten an, oder es werden bei ihm Bedarfe in derselben Logik wie bisher entstehen und an den Produzenten weitergegeben.
Beim Produzenten führt die Verlängerung der Lieferzeit nach einer Anpassungszeit dazu, dass mehr offene Aufträge gleichzeitig im System und fest geplant sind (siehe Littles Law). Waren es bisher 3 Aufträge für die nächsten 3 Tage, sind es nun bereits 10 Aufträge für die nächsten 10 Tage.
In der Kombination beider Umstände steigt die Wahrscheinlichkeit für „Eilaufträge“ (= Aufträge, die in die bereits geplante Zone fallen) im Vergleich zu vorher an. Und bei jedem dieser Fälle muss der Vergleich mit den bereits geplanten Aufträgen erfolgen, um zu entscheiden, wo der Auftrag tatsächlich dazwischen passt:
Damit wird einerseits die Priorisierung schwieriger – die Zahl der paarweisen Vergleiche steigt stark an, in unserem Beispiel um bis zu Faktor 10*. Zum anderen muss mit der steigenden Zahl an Eilaufträgen häufiger umgeplant werden, bis hin zur Benachrichtigung aller betroffenen Kunden. Vorher waren das höchstens drei, inzwischen bis zu zehn Betroffene.
Die Folgen können reduziert werden, indem Produktionsslots freigehalten werden. Deren späteres Füllen durch Vorziehen ist aber nur möglich, wenn es Sicherheitsbestände für Eingangsmaterialien gibt, produzierte Aufträge verfrüht geliefert werden dürfen oder als Fertigerzeugnisse zwischengelagert werden können.
- Mehr Planungsaufwand durch Überraschungen
Was außerdem unverändert bleibt, ist die Zahl der Überraschungen. Wie z.B. ein kranker Maschinenbediener, eine defekte Maschine, ein nicht pünktlich ankommendes oder nicht verwendbares Rohmaterial. Sie alle werden spontan entdeckt, in unserem Beispiel am Tag 0.
Je nach dem kann es für einen oder alle der drei fest geplanten Aufträge zu Veränderungen führen, die bearbeitet und dem Kunden mitgeteilt werden müssen. Nach der Verlängerung der Lieferzeiten sind bis zu zehn Aufträge betroffen. Geht beispielsweise wegen der Überraschung ein Produktionstag verloren, muss entweder ein Auftrag konsequent ans Ende der Schlange verschoben werden oder jeder einzelne Auftrag um einen Tag.
Kurz: Mit der Verlängerung der Lieferzeiten ist die Dominokette einfach länger geworden, was den Umplanungsaufwand erhöht. Wird zudem die Planung jeden Tag aktualisiert, erhält jeder Kunde während seiner Wartezeit nicht mehr drei Updates, sondern zehn, die er auf Abweichungen und gegebenenfalls auf Vereinbarkeit mit seinen eigenen Planungen prüfen muss.
Im Ergebnis wird klar: mit der Verlängerung der Lieferzeit steigt die Zahl der gleichzeitig offenen Aufträge im eigenen System und dem der Kunden entsprechend an. Und mit der längeren Lieferzeit steigt einerseits die Wahrscheinlichkeit für Überraschungen im fixierten Zeithorizont, andererseits der auftretende Umplanungsaufwand durch die höhere Zahl der betroffenen Aufträge.
Das gewünschte Ziel, dass mit der Verlängerung der Lieferzeit die Planung einfacher würde, hat der Produzent nicht erreicht. Das gilt desto mehr, je komplizierter die jeweiligen Produktionsverhältnisse sind, d.h. je mehr Produktionsressourcen, Aufträge pro Tag und Produktionsschritte geplant werden. Dann sind schnell ein paar Tausend Aufträge von einer Änderung betroffen.
Dass es wider Erwarten nicht einfacher wird, liegt schlicht daran, dass der Planungsaufwand nur vordergründig vom zeitlichen Vorlauf abhängt. Tatsächlich ist die Anzahl der Überraschungen sowie die Zahl der betroffenen offenen Aufträge viel maßgeblicher. Soll die Planung einfacher werden, muss entweder konsequent daran gearbeitet werden, dass weniger Überraschungen auftreten bzw. die Überraschungen keine Auswirkung auf die Planung haben können. Oder die Lieferzeit – d.h. die Zeitspanne, in der der Produzent überhaupt mit festen Terminen agiert – muss verkürzt werden, damit weniger Aufträge gleichzeitig offen und betroffen sind.
Deshalb werden auch besonders überraschungsanfällige Systeme nicht mit Terminen, sondern mit Standardlieferzeiten, Warteschlagen und flexiblen Kapazitäten gesteuert. Das wirkt zwar aufgrund der redundanten Kapazitäten verschwenderisch, eliminiert aber JEDE Form von Planungs-, Umplanungs- und Eskalationsaufwand. Und produziert nebenbei noch die besten Ergebnisse für die Kunden. Was der eigentliche Grund ist, warum Lieferzeiten immer mehr zum entscheidenden Thema werden. Nicht weil sie so komfortabel sind, sondern weil sie sich sehr positiv auf die Produktivität des Gesamtsystems auswirken.
* Sie ermitteln sich nach der Formel (n*(n-1)/2). Bei 3 Aufträgen 4*3/2 = 6, bei 10 Aufträgen 11*10/2 = 55
P.S. Diese Ausführungen gelten analog auch für Dienstleistungssysteme. Beispielsweise darf für eine Impfkampagne angesichts vielfacher Überraschungsquellen (falsche Daten, fehlender Impfstoff, überschüssiger Impfstoff, Personal krank, Verspätung, Nichterscheinen, Vorziehen von Impflingen) bezweifelt werden, dass ein System mit festen Terminen die effektivste Lösung ist.
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