Anfang Januar diskutierte ich mit einem Bekannten über den Fortschritt der Digitalisierung. Er vertrat dabei die Meinung, die deutschen Firmen (und Institutionen) seien exakt so weit digitalisiert, wie sie es bräuchten. Ein Gedanke, der mich seitdem beschäftigt. Kann das wirklich sein? Eine Interpretation erfrischend abseits der üblichen Klagelieder des bevorstehenden Niedergangs. Was wäre, wenn er recht hätte?
Brauchen ist ein Wort, dass wir häufig benutzen, um unsere Bedürfnisse zu äußern. Oder um einen Verzicht auf eine Handlung zu verkünden: Wir brauchen ein neues ERP-System. Wir brauchen keine Unterstützung. Da brauchen wir uns nicht drum zu kümmern. Was auffällt: brauchen benutzen wir in der Regel ohne Kontext. Wir sagen nicht, warum wir etwas brauchen oder nicht brauchen. Wir benutzen es einfach, wie einen leckeren Cocktail aus Entscheidung, Wissen und Bewertung. Das brauchst Du nicht machen. Schluss, ganz einfach.
Wie unterschiedlich der Kontext dabei sein kann, sehen wir erst, wenn wir auf eine Aussage des Brauchens oder Nicht-Brauchens zurückfragen „warum?“ oder wenn wir den jeweiligen Satz fortführen: Wir brauchen nicht weiter zu digitalisieren, um…
- unseren Markt umzukrempeln?
- unserem Wettbewerb davonzuziehen?
- Gewinn zu machen?
- zu überleben?
- flexibel zu bleiben?
- die neuesten Technologien zu nutzen?
- zu sehen, ob das Vorteile bringt?
- es zu tun, solange wir uns das noch leisten können?
Tatsächlich gibt es nahezu unzählige Möglichkeiten, die Aussage zu vervollständigen. Sie haben alle mit der Zielsetzung des Sprechers zu tun. Will er nur mitspielen oder das Spiel gewinnen? Wie lange will er mitspielen? Und in welcher Rolle? Und was soll danach passieren? Je nach dem würde die Einschätzung zur Plausibilität der Aussage etwas anders aussehen. Was ist es also, woran gemessen die Digitalisierung exakt so weit sein könnte, wie sie gebraucht wird?
Probieren wir es mit einer Analogie. Nehmen wir einen Mann, der 180 kg wiegt. Er könnte von sich behaupten, er ernähre sich exakt genauso gesund, wie es erforderlich sei. Zumindest solange er am Leben ist. Selbst, wenn er früher stürbe als der Durchschnitt seiner Altersgruppe, könnte er in seinem Nachruf darauf bestehen, es handele sich nur um einen Zufall oder einen gewöhnlichen statistischen Ausreißer.
Entlarven könnten wir seine Aussage erst dadurch, dass wir den Kontext ergänzten und den Satz fortführten: Ich ernähre mich exakt genauso gesund, wie ich es brauche, um meinen 50. Geburtstag zu erleben. Glauben wir gerne. Oder doch, um vielleicht 100 Jahre alt zu werden? Lach, wohl kaum…
Verzichten wir auf den Kontext, sind „brauchen“ und „nicht brauchen“ schlicht inhärent tautologisch. Man kann alles als gebraucht oder nicht gebraucht erklären: Ich brauche unbedingt mal wieder Urlaub. Bundesliga brauche ich inzwischen gar nicht mehr. So ein Elektroauto brauche ich auch bald. Das brauche ich heute nicht zu tun, das reicht morgen völlig aus. Anders als klassische Tu-Worte wie machen, ausprobieren, vorankommen und Co. sind Aussagen mit brauchen und nicht brauchen ohne Energie und ohne Wert. Die nur kleine und große Akte der Untätigkeit, des Unterlassens, Aufschiebens oder Verhinderns mit dem Tarnmantel falscher Sicherheit verkleiden.
Um auszuprobieren, wie es besser geht, habe ich heute früh einen Selbstversuch unternommen: Im Halbschlaf dachte ich mir, so früh brauchst Du heute gar nicht aufzustehen. Ist doch noch Lockdown. Hach, das Paradies ganz nah. Äh, Moment mal, um was? Um heute gar nicht aufzufallen? Um das zu schaffen, was ich mir vorgenommen habe? Oder um die Welt zu verändern? Es hat dann ausgereicht, zu denken, um aus diesem Tag etwas Besonderes zu machen. Ich dachte zu mir selber „doch“, schmunzelte und schwang mich mit einer großen Portion Energie aus dem Bett.
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