In dieser Woche habe ich erlebt, wie ein Berater des vielleicht renommiertesten deutschen Lean-Beratungshauses einer größeren Runde gestandener Produktioner erklärt hat, „was Lean ist“. Mit Verweis auf Taichi Ohno hat er als Kern angeführt, die übliche Auslastungsorientierung durch eine konsequente Durchlaufzeitorientierung zu ersetzen. Im Fortgang hat er mehrfach behauptet, dass mit sinkender Durchlaufzeit automatisch auch die Kosten sinken und die Produktivität steigen würde. Leider hat er den Zuhörern nicht erklärt, warum das so ist. Entsprechend zögerlich war ihre Reaktion. Im Anschluss habe ich mich gefragt „wie würdest Du es denn mit wenigen Worten erklären?“ Hier ist meine Antwort:
Kapazitäten und Kundenbedarfe fallen immer auseinander. Das ist ein Naturgesetz. Wenige große Firmen (= Massenfertiger) können es sich leisten, alle Tätigkeiten zu verketten, die Arbeit zwischen den Arbeitsplätzen gleich zu verteilen und ansonsten die Auslastung über die Verlängerung der (Kunden-) Wartezeiten zu glätten. Bei allen anderen sind die Auslastungen der Arbeitsplätze nicht synchronisiert und es gibt immer nur die Chance, dass es an einzelnen Arbeitsplätzen oder auch in der gesamten Firma zu viel oder zu wenig Arbeit gibt.
Da wir intuitiv fest davon überzeugt sind, dass Menschen desto so produktiver sind, je stärker sie ausgelastet sind, suchen wir die Überlast und meiden die Unterlast. Das tun wir, bis lokal Schmerzgrenzen überschritten werden, und wir den Schmerz mit einem zusätzlichen Mitarbeiter lindern. Hinter dieser Präferenz stecken zwei Annahmen: Nur bei Überlast kann kein Leerlauf entstehen und der Druck der wartenden Aufträge wird schon dafür sorgen, dass sich die Mitarbeiter ein bisschen mehr beeilen.
Was passiert jetzt, wenn einzelne oder mehrere Arbeitsplätze des Systems überlastet sind? Als Nebenwirkung bilden sich vor jedem der Engpässe Warteschlagen und Liegezeiten. Zeiten, in denen Aufträge auf ihre Bearbeitung warten. Liegezeiten können bei konsequenter Auslastungsorientierung 90-99% der gesamten Durchlaufzeit jedes Auftrages betragen. Wir erkennen sie daran, dass sich vor dem jeweiligen Arbeitsplatz oder in Zwischenlägern angearbeitete Produkte stauen. In Büros erkennen wir hohe Aufgabenbestände regelmäßig nur an den langen Antwortzeiten der Bearbeiter.
Und hier kommt unsere zweite entscheidende Annahme ins Spiel: Wir denken, Liegezeiten kosten ja nichts, warten ist ja umsonst. Wo nichts passiert, können ja keine Kosten entstehen. Oder wie man heute sagen würde: „Warten“ schreibt keine Rechnung. Am ehesten meldet sich noch unser Controller, der sich über die Kapitalkosten der wartenden Materialbestände beschwert. Ihn beschwichtigen wir mit dem Hinweis auf unsere Beschaffungsprobleme oder sagen ihm, dass das ganz normal sei.
Diese zweite Annahme ist ein grober Irrtum. Je höher die Auslastung wird und je länger die Wartezeiten sind, desto mehr Aufträge sammeln sich an. Und desto länger wird die Lieferzeit. Das ist alles nicht im System abgebildet und die echten Termine und die Systemtermine fallen auseinander. Alles ist eilig und überfällig. In internen Steuerungskreisen sprechen wir ab, was tatsächlich zu produzieren ist. In Krisenmeetings mit dem Kunden besprechen wir Gegenmaßnahmen. Wir zahlen Eil-Transportkosten, Überstundenzuschläge, planen um, räumen Bestände hin und her, haben zusätzliche Produktwechsel und Rüstkosten, werden hektisch und machen Fehler, zahlen Pönalen für Folgeschäden und erleiden höchstwahrscheinlich auch Umsatzausfälle, weil wir weniger liefern als wir könnten und Aufträge verlieren, weil wir als unzuverlässig und teuer gelten.
Wenn wir schätzen wollen, wieviel zusätzlichen Aufwand die Auslastungsorientierung verursacht, zählen wir am besten die gebuchten Sonderkosten, alle Steuerleute, die Hälfte der Disponenten und Staplerfahrer, die Such- und Korrekturzeiten und die unterlassene Vertriebs- und Führungsarbeit in Vertrieb und Führungskreis zusammen. Oder wir orientieren uns gleich an der Halbierung der Kosten, die mit der konsequenten Lean-Umsetzung einhergeht. In jedem Fall sind die Liegekosten weit höher als die vielleicht 10-20% zusätzlicher Produktivität, die mit einer überhöhten Auslastung gewonnen werden können.
Genau aus diesem Grund garantiert bei jeder Art von Aufgaben die Fokussierung auf kurze Durchlaufzeiten nicht nur kürzeste Bearbeitungszeiten, sondern auch kürzeste Liegezeiten und damit die insgesamt geringste Verschwendung.
(Disclaimer an alle Lean-Semantiker, -Romantiker und -Puristen: ja, Lean ist natürlich noch viel mehr. Aber hier geht es erstmal nur um den Kern, warum Lean-Systeme so viel leistungsfähiger sind 😉).
Bild: www.unsplash.com / Jacques Dillies