Erstmals kam ich auf den Gedanken, es mit einer tiefgründigen Veränderung zu tun zu haben, als ich vor zwei Jahren zu meinem Hausarzt ging, damals, als man für eine Dienstreise noch einen negativen PCR-Test brauchte. Eine neue Ärztin in der Praxis betrat den Raum und begrüßte mich mit den Worten „endlich mal einer, dessen Augen noch glänzen“. Ein Satz, der mich überrascht und irritiert hat.
Natürlich treffe ich gerade in den letzten Jahren immer häufiger auf Menschen, die auf die Rente schielen, ihre Ruhe haben und keine Risiken mehr eingehen wollen. Die auf die eine oder andere Art davon träumen, sich den Anforderungen ihres gewohnten Lebens zu entziehen.
Und ich bemerke immer mehr Menschen in der Öffentlichkeit, die ganz offensichtlich ihrer aktuellen Realität entrückt sind. Da gibt es natürlich die einen, die sich lediglich mit ihren Ohrhörern abschotten, aber auch diejenigen, die ihre Handlungen mechanisch routiniert und mit leerem Blick vollführen.
In diesem Jahr habe ich sogar das Gefühl, dass eine Art Schleier das Land überzieht, ein eigenartiger Zustand routinierter Antriebslosigkeit. Oder wie es im Frühjahr eine Verkäuferin in Taormina sagte, als wir uns über die Auswirkungen der Pandemie unterhielten: Pizza, divano (dt. = Sofa), basta. Viele Menschen wirken vermüdet, ganz so, als hätten sie ihr Leben bereits aufgegeben. Sie funktionieren, aber tun sich schwer, es zu gestalten. Zumindest, soweit es über kurzfristigste Konsumpläne hinausgeht. Sie sind immer in Erwartung der nächsten Überraschung und fühlen sich offensichtlich von viel kleineren Dingen überfordert, als es früher der Fall gewesen wäre.
In einem aktuellen Artikel beschreibt Riccarda Zezza ihre persönlichen Beobachtungen zu diesem Weihnachtsfest. Sie nennt es eines, das keines mehr ist. Sie beobachtet Menschen, die routiniert funktionieren, als wären sie von irgendwem geschickt worden, denen es aber an froher Erwartung fehlt und an der Vorfreude auf das Neue. Sie nennt es einen Zustand der Hoffnungs- und Erwartungslosigkeit und konstatiert eine gemeinschaftliche Depression, die sie auf die verstärkten Unsicherheiten der letzten Jahre zurückführt.
Ich vermute einen größeren Zusammenhang und sehe die Grundbedingungen erfolgreichen menschlichen Lebens grundsätzlich in Gefahr. Schließlich sind wir Menschen von Natur her eine Spezies, die im Lebensraum der Kleingruppe am besten gedeiht. Und dieses natürliche Biotop haben wir in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt geschwächt. Zunächst haben wir den traditionellen emotionalen Kern der Familien, die Frauen, in den Arbeitsmarkt integriert. Wir haben ihnen suggeriert, es sei ein Fortschritt, ebenfalls einem Broterwerb nachzugehen, und haben damit unseren gesellschaftlichen Abstieg im globalen Vergleich verschleiert. Heute führen regelmäßig beide Partner bzw. Eltern ihren Lebensschwerpunkt außerhalb der Familie.
Bei der Arbeit haben wir Computer gezielt eingesetzt, um Interaktion und Kommunikation zu regulieren oder zu unterbinden. Menschen sollen so isoliert wie möglich arbeiten. Und wo das nicht reicht, sorgen Kameras und Pausenzonen für die maximale soziale Kontrolle.
Smartphones absorbieren unsere Restaufmerksamkeit und bombardieren uns mit einem endlosen Strom apokalyptischer Meldungen, Cartoons, Statusbildchen oder Filmchen, die wir nach einem Lächeln oder Staunen mechanisch weiterverteilen, um unsere engsten Kontakte ebenfalls vom Leben abzulenken. Wie bettelnde Kinder drücken wir unsere Nasen an den Schaufenstern der unzähligen Medienkanäle platt, die mit ihren bunten Konserven dreist ein paar Augenblicke unseres Leben kapern. Und alles, was wir dort heute sehen, ist übermorgen schon zu Staub zerfallen. Wer erinnert sich denn heute noch an den letzten deutschen König, Karl Lauterbach? Und dennoch bedeutet uns ein Like im Netz mehr als ein Lächeln im echten Leben.
Dann kam die Pandemie mit ihren offiziellen Kontaktbeschränkungen und Home Office, das den Menschen auch noch einen Großteil ihrer regelmäßigsten Sozialkontakte genommen hat. Und als wäre das nicht genug der Einschnitte, verkaufen uns die wildgewordenen Weltuntergangsideologen den Verzicht auf Strom und Licht als Fortschritt. Und so verbringen wir zum ersten Mal seit mehr als 200 Jahren Weihnachten im Dunkeln oder mindestens mal mit schlechtem Gewissen.
Damit nehmen sie uns inmitten aller Reizüberflutung und Unsicherheit auch noch die zentrale Quelle der Hoffnung. Hoffnung, die wir seit Jahrhunderten alljährlich auf dieselbe Weise schöpfen, nach dem Motto
„Welt ging verloren, Christ ist geboren.“
Wer seine christliche Primärsozialisation längst an den Haken gehängt hat und dennoch in der emotionalen Dunkelheit nach Heilung sucht, einem Ausweg aus seiner persönlichen Vermüdung, meidet besser jede Art medialer Erregungspiraterie. Setzt sich wieder selber Ziele, die ihm selber oder seinen Mitmenschen idealerweise erst mittelfristig einen Vorteil verschaffen. Und beginnt wieder, persönliche Gespräche zu führen. Einfach aus Lust am Leben. Jüngere machen das vielleicht über Formate wie „Deutschland spricht“. Andere sprechen einfach mal mit ihren Nächsten, mit Bekannten, Kollegen oder Geschäftspartnern. Oder mit ihrem Sitznachbarn an der Bar (ja, dafür muss man rausgehen, aber keine Angst, das haben Sie früher mal gekonnt ;-)).
Im Vergleich zu Insta-Häppchen entschleunigt das ungemein, es bereichert, weil es die Chance auf den Ausbruch aus unserer Social Media Bubble bietet. Und es schafft uns Wege für neue Lösungen, Lösungen, die wir auch mit dem besten Youtube Tutorial nicht alleine erreichen könnten. Egal, ob es um einen Hausbau, eine Meisterschaft im Mannschaftssport, eine soziale Initiative oder eine nachhaltige Antriebstechnik der Zukunft geht.
In unser aller eigenem Interesse wünsche ich uns für das neue Jahr viele persönliche Gespräche, mehr Menschsein und damit auch wieder mehr Hoffnung.
(Anmerkung: Herzlichen Dank an Henrik für die Erfindung des Wortes „vermüdet“)
Bild: unsplash.com / Annie Spratt