Über die natürlichen Grenzen der Mitbestimmung im betrieblichen Geschehen
Heutzutage geht es fast immer um Demokratie, weil Demokratie etwas Tolles ist. Lernen wir schon in der Krippe, wenn alle gefragt werden, ob sie lieber vegane Haferkekse oder Chia-Vanillekipferl möchten. Und so wird „Demokratie“ im Zeitalter idiokratischen Meinungsterrors in einer Häufigkeit gebraucht, dass jede galoppierende Inflation in kürzester Zeit aus der Puste käme.
Oftmals geht es im Mainstream-Marketing-Sprech um „Demokratisierung“, womit gemeint ist, dass endlich alle Zugang zu etwas haben werden. Zumindest theoretisch, wenn sie sich dafür überhaupt interessieren und dann auch noch über das notwendige Kleingeld verfügen. So behauptet die Firma Vention großspurig, sie würde die Automation der Produktion „demokratisieren“, womöglich ebenso wie Nike die Sportkleidung, Shell die Benzinversorgung und McDonalds das Fastfood demokratisiert haben. Ihr seid allesamt Helden, meine Lieben.
Ganz ähnlich fordern die elfenbeintürmenden Denker unserer Zeit, doch endlich die Arbeitswelt, die Situation in den Unternehmen, zu demokratisieren. Wobei jeder der Vertreter ein anderes Maß der Partizipation der Werktätigen am betrieblichen Geschehen vor Augen hat. Nicht immer geht es um die Maximalforderung, dass ja keiner über den anderen herrschen dürfe und alle gleich seien. Manchmal ist nur gemeint, dass einfach jeder am besten selber entscheiden könne und möge, was zu tun sei, manchmal wird auch nur die demokratische Entscheidungsfindung in allen gemeinschaftlichen Fragestellungen gefordert.
Das Reden über Selbstorganisation und Demokratie hat sich inzwischen derart verbreitet, dass jede Form von realer Führungs- und Orientierungslosigkeit (= praktisch schlecht) als Selbstorganisation (= vermeintlich gut) verponyhoft wird. Ebenso sinn- und verständnisfrei wie jahrelang jeder Personalabbau schlichtweg als „Lean“ oder „schlank“ bezeichnet und damit zu Unrecht mit Zuckerwatte verkleistert wurde.
Dabei hat das Konzept der Demokratie nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, nach dem alle Beteiligten gleich und an der Willensbildung zu beteiligen seien, mal so gar nichts in wirtschaftenden Gebilden zu suchen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Und weil das so ist, gibt es in der Praxis überall das reale Phänomen der Führung. Übrigens auch dort, wo demonstrativ entschieden wurde, auf Führung verzichten zu wollen. Denn Führung lässt sich nicht anordnen oder abschalten, Führung ist etwas sehr Natürliches, was gesucht und angeboten wird, weil es eine Vielzahl praktischer Funktionen erfüllt. Die größten Vorteile sind:
- Energieeffizienz
Ab dem ersten Atemzug orientieren und referenzieren wir Menschen uns an unserer Umwelt. Zu lernen, zu wissen, wer der stärkste ist, bzw. wer uns Notfall unterstützen kann, hilft uns dabei, zu überleben. Und so orientieren wir uns ganz automatisch zunächst an unseren Eltern, dann an den zuständigen staatlichen Autoritäten (Lehrern) und später an unseren Chefs, um erfolgreiche Muster zu kopieren, unnötige Suchen, Diskussionen oder Kämpfe zu vermeiden und mit möglichst wenig Energieverlust durchs Leben zu kommen. Irgendwann komplettieren dann noch die Vorbilder irgendeiner Peer Group unseren Bedarf an individuellem Orientierungsnutzen.
In Firmen screenen wir die vorhandenen Hierarchien, um zu erkennen, an wem wir uns idealerweise orientieren. In kleineren Einheiten räumen wir den Signalen des Eigentümers praktisch das höchste Gewicht ein, weil wir vermuten, dass er über den größten Einfluss verfügen wird. Verzichtet er von sich aus auf seine Rolle, führt das zu Irritationen, und dann übernehmen Konstruktionen und Zuschreibungen, was er denn wollen könne, das Kommando. Vielstimmigkeit und Lähmungserscheinungen sind die Folge.
Fast noch größer als die individuellen Vorteile des Führens und des Folgens ist der kollektive Nutzen. Je größer eine Gruppe ist, desto schwieriger ist es, kollektives Handeln zu organisieren. Insbesondere weil nie alle anwesend oder an einem Thema gleich interessiert sind oder die Einbeziehung aller länger dauert, als Energie vorhanden ist.
So ist eine kollektive Diskussion gänzlich untauglich, wenn Gefahr im Verzug ist. Dann gilt es, in kürzester Zeit die beste Option zu wählen. Da kann es wichtig sein, wenn jemand praktisch oder formal autorisiert ist, das Kommando zu übernehmen. Und zwar nicht unbedingt von einer höheren Gewalt, sondern vor allem von den anderen Mitgliedern der Gruppe.
Dasselbe gilt für Innovationen. Innovation entsteht dann, wenn einer oder einzelne die Energie aufbringen, außerhalb der herrschenden Konventionen einen Gedanken zu verfolgen oder etwas auszuprobieren. Innovationen sind gewissermaßen die Ergebnisse abweichender Minderheiten. Im vorangehenden Kollektiventscheid würde sich immer eine Mehrheit dafür finden, dass die Suche nach dem Neuen ja unterlassen werden könne, weil es nach den aktuell geltenden Überzeugungen zu nichts führen werde.
Führung kann bei Gefahr, Neuem oder in Abwägungssituation Abkürzungen schaffen, Energien verstärken, begeistern und weniger vielversprechende Optionen ausblenden. Das macht vieles viel einfacher. Insbesondere kürzt es quälend lange Debatten der Mehrheitsfindung ab, wenn einer das Heft des Handelns in die Hand nimmt.
- Asymmetrische Interessenverteilung
Es gibt in Firmen schlichtweg zwei grundsätzlich unterschiedliche Rollen, und damit auch unterschiedliche Interessen. Zum einen sind da Eigentümer, die insbesondere die vollständigen Konsequenzen aller Entscheidungen tragen. Sie haften mit ihrer Freizeit, ihrem Einkommen oder auch mit den (Familien-) Vermögen. Ihnen stehen deshalb auch die Risikoprämien zu, wenn es mal überdurchschnittlich gut läuft. Gerade diese Prämien verschaffen ihnen den Antrieb, in ihrem persönlichen Interesse die Impulskraft zu investieren, die Firma und ihre Weiterentwicklung in eine unbekannte Zukunft voranzutreiben. Sie haben regelmäßig keine gleichwertigen Optionen und sind damit notwendigerweise langfristig mit der Firma verbunden.
Während alle nicht-Eigentümer im Unternehmen vom Grunde her zunächst nur Zeit gegen Geld tauschen. Sie nehmen keine Kredite auf, schießen kein eigenes Geld nach und verzichten im Regelfall auch nicht auf Entgelt. Aufgrund ihrer begrenzten wirtschaftlichen Chancen sind sie häufig nicht bereit, sich über ihre Arbeitsleistung hinaus einzubringen und an der betrieblichen Gestaltung und Entscheidungsfindung mitzuwirken. Sie achten vielmehr darauf, dass der Leistungstausch angemessen bleibt und trennen deshalb Dienst und Schnaps sorgfältig voneinander. In ihrem privaten Alltag konzentrieren sie sich darauf, ihr vorhandenes Einkommen zu maximieren, indem sie sparsam handeln. Im Normalfall sind Sie es nicht gewöhnt, in langfristiges Wachstum zu investieren. Die Firma können sie jederzeit verlassen und eine andere Arbeitsstelle annehmen.
Stehen Entscheidungen an, werden die nicht-Eigentümer bei der Abwägung zwischen Unternehmen oder Unterlassen ebenso wie zwischen unterschiedlichen Alternativen andere Präferenzen haben als die Eigentümer. Das wird immer dann besonders offensichtlich, wenn es um das Überleben oder überaus riskante Fragestellungen geht. In diesen Fällen werden beide Gruppen sehr unterschiedlich von den Konsequenzen betroffen sein, weshalb sich die meist wenigen Eigentümer natürlicherweise das letzte Entscheidungsrecht vorbehalten werden. Was natürlich nicht ausschließt, dass sie vorher die anderen um ihren Rat fragen werden.
- Dummheit kontrollieren
Demokratie ist egalitär, alle sind gleichberechtigt, und zwar unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten. Jetzt kann man das zwar fachlich eingrenzen, und annehmen, dass jeder in seinem Fachbereich schon überdurchschnittliche Fähigkeiten aufbringen werde und deshalb in allen lokalen Angelegenheiten ein wichtiger Mitsprecher und -entscheider sein müsse. Genauso könnte man ihm zubilligen wollen, in seinem Fachbereich allein nach eigenem Ermessen zu entscheiden.
Allerdings unterscheidet das Konzept der Demokratie nicht nach unterschiedlichen Graden der Intelligenz. Und die spielt praktisch eine sehr wichtige Rolle. Auf einem eher niedrigen Niveau werden eher simple Ursache-Wirkungszusammenhänge bevorzugt, ist das Denken selten dynamisch und am Allerwichtigsten, tendieren die Betroffenen dazu, ihre eigenen Kompetenzen zu überschätzen. Kurz: die Dummen sind sich halt sehr sicher.
Was für eine erfolgreiche private Lebensführung eine beneidenswerte Stärke ist, bietet in Gruppen die Gefahr, dass bestimmende Mehrheiten zu eher kurzsichtigen und nicht optimalen Handlungsoptionen neigen. Wie zum Beispiel Kunden nicht mehr zu beliefern oder mit ihren zukünftigen Wünschen zu ignorieren (= Unterlassen). In vielen Fällen ist es wichtig, über Mechanismen zu verfügen, die individueller Weitsicht und Mut Vorrang vor der Meinung kurzsichtiger Mehrheiten verschaffen.
Dasselbe gilt auch im Kleinen, wo dem Kollektiv große Schäden drohen, wenn sich jemand lokal übermäßig sicher ist bzw. die Tragweite seines Handelns nicht erkennt. Da hilft dann auch kein 4-Augen-Prinzip, wenn sich zwei in ihrer jeweiligen Sicherheit gegenseitig bestärken. Auch hier sind weitergehende Kontrollmechanismen wie Pflichtkonsultationen vonnöten, um das Kollektiv im Zweifelsfall zu schützen.
Dabei sei eingeräumt, dass ein sehr hierarchisches Verständnis von Führung das Risiko birgt, eine formale Führungsrolle jemandem anzuvertrauen, der sich sicherer ist als das für seine Aufgabe angeraten wäre (aka Peter-Prinzip). Diese Fälle werden über kurz oder lang zwar immer transparent, sind aber praktisch nicht einfach lösbar und stören nicht selten massiv die Wertschöpfung.
Firmen sind dann erfolgreich, wenn sie besser sind als ihre Wettbewerber. Dafür braucht es in mitunter sehr heterogenen Kollektiven einen starken Kooperationswillen und einen geschickten Umgang mit den Themen Geschwindigkeit, Energie, Mut, Zuversicht, Weitsicht und Vorsicht. Es ist nicht auszuschließen, dass sich in Einzelfällen bzw. in Kleinsteinheiten das erfolgreiche Gedeihen (zufällig) demokratisch organisieren lässt. Spätestens mit dem Wachstum, steigendem Koordinations- und Orientierungsbedarf sowie zunehmender Diversifizierung des Geschehens wird das egalitäre Grundverständnis immer weiter in den Hintergrund treten und werden die Rollen stärkengemäß ausgefüllt werden müssen, um im notwendigen Maß handlungsfähig zu bleiben. Führung wird unverzichtbar. Ob sie statisch oder dynamisch übernommen wird, sei dahingestellt. Statt auf Egalitarismus zu beharren, könnte sich die Diskussion stärker darauf konzentrieren, wie Führung jeweils am wirkungsvollsten organisiert wird und wie sich die schädlichen Nebenwirkungen statisch hierarchischer Führung begrenzen lassen.
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