Das agile Missverständnis

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28 Jah­re nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung ist Deutsch­land wie­der geteilt. Orga­ni­sa­to­risch gibt es die­je­ni­gen, die Soft­ware machen, und den Rest. Die einen nut­zen agi­le Metho­den wie Scrum oder Kan­ban. Der Rest lebt sei­ne Hier­ar­chien, ver­teilt Auf­ga­ben und kon­trol­liert. Die Front­li­nie ver­läuft häu­fig zwi­schen Kun­den und Dienst­leis­tern, in gro­ßen Soft­ware­fir­men zwi­schen Vor­stand und Rest oder zwi­schen Software-Teams und Fach­ab­tei­lun­gen (ja, die gibt es noch). In Start-ups irgend­wo zwi­schen Geld­ge­bern und der Mann­schaft. Damit ver­bun­den ist eine Men­ge gegen­sei­ti­ges Nicht­ver­ste­hen, weil bei­de Sei­ten ihr inkom­pa­ti­bles Tun ver­tei­di­gen, ohne dar­über zu spre­chen, war­um genau sie was tun. Grund genug, mit ein paar Miss­ver­ständ­nis­sen aufzuräumen.

 

Was ist agil?

Genau­ge­nom­men fehlt es an einer kla­ren Defi­ni­ti­on. Oft lesen wir „agi­le Vor­ge­hens­wei­sen, bei­spiels­wei­se Scrum oder Kan­ban.“ Das klingt nicht prä­zi­se. Man­che Netz­quel­le schlau­mei­ert: „Unter Agi­li­tät ver­steht man alle Metho­den, die agil sind.“ Schö­nen Dank. Tech­nisch trifft am ehes­ten die Aus­sa­ge zu, dass alle Metho­den agil sind, die die abs­trak­ten Wer­te und Prin­zi­pi­en des agi­len Mani­fests in die Pra­xis umset­zen. Damit ist ein Schirm gemeint, unter den Metho­den und „Hacks“ (= Knif­fe) nach Belie­ben schlüp­fen kön­nen, wenn sie Men­schen, funk­tio­nie­ren­de Pro­duk­te, Kun­den und Fle­xi­bi­li­tät in den Vor­der­grund stel­len. Des­halb wer­den auch älte­re Lösun­gen – wie das aller­meis­te Lean-Instrumentarium – von der Agi­li­täts­be­we­gung ver­ein­nahmt. Geschenkt. Schau­en Sie doch ein­fach mal anhand der genann­ten Kri­te­ri­en Ihre eige­nen Regeln und Arbeits­wei­sen durch, da mer­ken Sie schnell, was davon alles agil ist und was nicht.

 

War­um agil?

Ger­ne wird behaup­tet, wir hät­ten ja Fach­kräf­te­man­gel und müss­ten den jun­gen Leu­ten anders begeg­nen, sonst fühl­ten sie sich nicht wohl. Oder noch all­ge­mei­ner: Das Zeit­al­ter der Selbst­steue­rung sei ange­bro­chen und des­halb ein neu­es Füh­rungs­ver­ständ­nis von­nö­ten. Bei­des mag sein, geht aber am Kern der Sache vorbei.

Der da ist: Soft­ware ist oft­mals sehr neu­ar­tig. Und anfangs ist noch nicht klar, wohin die Rei­se gehen wird, wel­che Funk­tio­nen die Kun­den gou­tie­ren wer­den und wel­che nicht. Genau­ge­nom­men ist das Neue, dass die Kun­den selbst in vie­len klei­nen Schrit­ten die Pro­dukt­ent­wick­lung mit ihrem Feed­back steu­ern. Dann lau­fen vie­le klas­si­sche Lösun­gen und Pro­zes­se ins Lee­re, die vor der Auf­trags­er­tei­lung beschrie­ben sehen wol­len, was kon­kret am Ende, wann und zu wel­chem Preis gelie­fert wer­den und auf Anhieb per­fekt funk­tio­nie­ren wird.

Ganz gene­rell gilt, wenn man unter­wegs ist und nicht weiß, wo man hin­will oder was einem auf der Rei­se pas­siert, ist man bes­ser dran, wenn man schnell reagie­ren kann. Wenn die Betei­lig­ten selbst Alter­na­ti­ven ent­wi­ckeln, abwä­gen und hand­lungs­fä­hig sind, ohne dass ihre Signa­le in der unend­li­chen Befehls­ket­te bis ins Haupt­quar­tier und zurück ver­san­den kön­nen. Klas­si­sche Orga­ni­sa­tio­nen ver­schwen­den näm­lich unend­lich viel Geld. Weil Arbeits­tei­lung, star­re Kapa­zi­tä­ten und stan­dar­di­sier­te Pro­zes­se nicht ange­mes­sen in der Lage sind, Neu­es zu pro­du­zie­ren und mit Über­ra­schun­gen umzu­ge­hen. Und da es immer wich­ti­ger wird, zügig Neu­es zu schaf­fen, gibt es agi­le Metho­den und fin­den sie rasend Verbreitung.

Sind uns die­se Hin­ter­grün­de erst ein­mal bewusst, kön­nen wir als Ver­tre­ter der Soft­ware­welt den Nut­zen ein­zel­ner Bau­stei­ne und Modi­fi­ka­tio­nen ablei­ten, ohne ein­fach nur das Gelern­te inqui­si­to­risch zu ver­tei­di­gen („ein Kan­ban ohne Cumu­la­ti­ve Flow ist kein Kan­ban“), und wir erhö­hen unse­re Fähig­keit, funk­tio­nie­ren­de Lösun­gen zu ent­wi­ckeln, statt uns nur gegen­sei­tig zu erzäh­len, wie wir die Din­ge gera­de tun („inter­es­sant, das pro­bie­re ich auch mal aus“).

 

Muss ich das auch?

Vie­le sehen in der Zusam­men­ar­beit mit ihren Software-Dienstleistern die neue Welt und wol­len das auch: Weni­ger pla­nen, schnel­le Ent­schei­dun­gen, aus­pro­bie­ren. Try und Error, ohne Anträ­ge, Doku­men­ta­ti­on und Recht­fer­ti­gung. Dafür holen sie sich einen Bera­ter aus der Software-Branche, der ihnen die Zuta­ten ver­mit­telt. Mit­ar­bei­ter erler­nen agi­le Metho­den und wen­den sie auf ihre Auf­ga­ben an. Manch­mal funk­tio­niert das, manch­mal nicht. Über kurz oder lang wächst die Skep­sis im Manage­ment, wer­den Rol­len ein­ge­spart oder das Gan­ze ver­küm­mert, weil es die Zuta­ten für Software-Suppe sind und nicht für den Industrie-Wrap oder den Dienstleistungs-Salat. Allein die Annah­me, der Lie­fe­rant darf immer dann die ver­spro­che­ne Funk­tio­nen redu­zie­ren, wenn er nicht wie erwar­tet vor­an­kommt, wird in 99% aller tra­di­tio­nel­len Wirt­schafts­um­ge­bun­gen Wider­stand erzeugen.

Des­halb soll­ten Sie sich lie­ber fra­gen: Wie­viel Neu­es brau­che ich? Wie schnell muss ich eigent­lich sein? Frü­her reich­te es, ab und zu mal zu schau­en, was die ande­ren machen und zu sehen, auf wel­chen Zug wir auf­sprin­gen. Heu­te sind fast nur noch ICEs unter­wegs. Die zudem immer schnel­ler fah­ren. Des­halb wer­den alle, die sich nicht grund­le­gend ver­än­dern und ihren eige­nen Zug auf die Rei­se schi­cken, in ihrem Koch­topf den Frosch­tod sterben.

Vie­le Groß­un­ter­neh­men haben das erkannt und kau­fen sich Start-ups als Vehi­kel, in denen radi­kal Neu­es ent­steht. Man­che begin­nen auch, ihre eige­nen Arbeits­wei­sen zu ver­än­dern. Irgend­wann knirscht es dann, weil sie lieb­ge­wor­de­ne Zöp­fe abschnei­den müs­sen. Denn indi­vi­du­el­le Boni, zen­tra­le Debat­tier­zir­kel und Ent­schei­dun­gen sowie hun­der­te lieb­ge­won­ne­ne Ritua­le sind mit den neu­en Gesetz­mä­ßig­kei­ten, Geschwin­dig­kei­ten und Fle­xi­bi­li­tä­ten ent­we­der nicht kom­pa­ti­bel oder zumin­dest für den Erfolg sehr schäd­lich. Dann wird es rich­tig span­nend, wie das im Ein­zel­fall ausgeht.

Für Mit­tel­ständ­ler und klei­ne Unter­neh­men bedeu­tet das: Was tun Sie, um Ihr not­wen­di­ges Maß an Neu­em zu schaf­fen und so fle­xi­bel zu sein, wie es Ihr Markt erfor­dert? Sind Ihre Kapa­zi­tä­ten so anpas­sungs­fä­hig, dass nichts lie­gen bleibt? Schaf­fen Sie sich immer meh­re­re Alter­na­ti­ven? Wird am glei­chen Tag ent­schie­den? Ist die sozia­le Dich­te hoch und alle wis­sen immer Bescheid? Das wird not­wen­di­ger­wei­se Ihre Orga­ni­sa­ti­on ver­än­dern. Dabei brau­chen sie nicht hek­tisch nach den erst­bes­ten Metho­den zu grei­fen, die Ihnen eupho­ri­siert von Bran­chen gereicht wer­den, die ande­ren Geset­zen gehor­chen als die ihri­ge. Viel wich­ti­ger wird es sein, authen­tisch zu blei­ben und sich so zu orga­ni­sie­ren, wie es zu Ihnen passt. Und wenn es funk­tio­niert, wird das Ergeb­nis zwangs­läu­fig das sein, was heu­te gemein­hin unter dem Begriff „agil“ ver­stan­den wird.

Bild: Regi­nar, Unsplash

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