Im Wilden Westen wurde Schlangenöl als Heilmittel gegen jedes erdenkliche Wehwehchen verkauft. DAS universelle Placebo. Hilft für und gegen alles. In der Arbeitsorganisation übernimmt der Ruf nach Zuständigkeiten diese Rolle. Egal, wo wir hinkommen, egal, mit wem wir sprechen, überall wird dieselbe Forderung erhoben:
„Wir müssen die Zuständigkeiten genauer festlegen!“
„Klar definierte Zuständigkeiten“ werden als intuitiv logische Lösung aller organisatorischen Probleme propagiert. Verständlich, denn dahinter steckt der Wunsch aller Parteien nach Frieden und Sicherheit. Die Sehnsucht, wir müssten uns nicht mehr abstimmen oder verhandeln, und dennoch würde alles wie am Schnürchen klappen. Chefs versprechen sich davon die Sicherheit, nicht mehr betteln und mit den Mitarbeitern in aufreibende Abwehrgefechte eintreten zu müssen.
Und die Lösung scheint so einfach: Wir müssen nur noch bessere „AKVs“ erstellen und exakt notieren und zuordnen, wer genau was tun wird. Berater nicken und unterstützen gern, schließlich müssen nur die Wortmeldungen der Beteiligten zu Papier gebracht werden. Das ist leicht verdientes Geld.
Aber weit gefehlt. Damit eine solche „exakte“ Lösung funktionierte, bräuchten wir exakte Standards, Takt und Stabilität. Es dürfte nie jemand neu sein, der vielleicht noch nicht alle Aufgaben seines Vorgängers kennt oder beherrscht. Die Arbeitsmenge dürfte auch nicht schwanken, so dass es nie erforderlich sein würde, gegenseitig mit anzufassen. Es dürfte auch nichts Neues oder technischen Fortschritt geben. Denn erstmals auftretende Aufgaben oder Lösungen können nicht im Vorhinein bekannt sein, geregelt und Beteiligten zugeordnet werden. Das gleiche gilt für einmalig auftretende Aufgaben. Für sie würde sich keiner je die Mühe machen, die Dokumentation zu ergänzen. Schade, dass wir im vor hinein nicht wissen, ob eine erstmalige Aufgabe einmal oder mehrfach auftreten wird. Und es dürfte auch keine Abwesenheiten geben, egal ob aufgrund von Krankheit, Elternzeit, Todesfall oder Urlaub. Bzw. es müsste für jede Aufgabe auch exakt festgelegt sein, wer sie übernimmt, wenn der Stelleninhaber nicht anwesend ist. Und der jeweils zweite und dritte Vertreter, falls die ersten beiden gleichzeitig abwesend sind.
Genaugenommen wird der Ruf nach geregelter Zuständigkeit desto lauter, je mehr Diskussionen infolge von Dynamik, Neuem, Schwankungen und Fluktuation entstehen. Während exakt im gleichen Ausmaß die verbindliche Regelung komplizierter, aufwendiger und damit auch unerreichbarer wird. Genau deshalb ist es außerhalb der Massenfertigung noch niemanden gelungen, das paradiesische Ziel perfekter AKVs zu erreichen.
Denn in den allermeisten Fällen entsteht das reibungslose Zusammenspiel bei der Vielzahl täglicher Unwägbarkeiten nicht durch exaktere Definition, sondern durch allgemeinere und damit robuste Lösungen, nach denen ein Team global eine Aufgabengruppe übernimmt und die jeweils auftretenden Herausforderungen situativ, dezentral und selbständig lösen kann. Eine Reduzierung der Anlaufstellen ist auch deshalb angeraten, weil bei zunehmend exakterer Definition und steigender Arbeitsteilung die Situation immer unübersichtlicher wird, bis die Ratlosigkeit Überhand nimmt, wer denn überhaupt zuständig ist.
Im Ergebnis werden geregelte Zuständigkeiten immer ein Phantom bleiben, das allgegenwärtig und doch nie erreichbar sein wird. Und die Forderung nach besseren AKVs wird ungehört verhallen wie ein stummer Schrei im Großstadtlärm.
Bild: www.unsplash.com / Xia Yang