Mit der Diskussion über agile Organisation rückt Lean wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, insbesondere wenn es um die Arbeit in unseren Büros geht. Alleine in dieser Woche werde ich zwei Vorträge zum Thema halten. Aber wie hilft Lean bei der Bewältigung der Aufgaben unserer Zeit? Wo wir immer zu viel zu tun haben, mit neuen Anforderungen konfrontiert sind, wo es nicht vorangeht und wir keine geeigneten Mitarbeiter finden?
Seit Jahrhunderten arbeiten und produzieren wir zusammen mit anderen Menschen. Dabei haben wir mit Arbeitsteilung und Spezialisierung die Wirtschaftlichkeit immer weiter gesteigert. Heute werden Aufgaben nicht nur nach dem benötigten Fachwissen aufgeteilt, sondern auch deshalb, weil nur einzelne Kollegen bestimmte Details wissen, weil die einzelnen Handgriffe einer Aufgabe unterschiedlich viel Erfahrung erfordern oder weil nur Chefs die Entscheidungen treffen. So bearbeitet jeder unserer Kollegen seine vierfach zerlegten individuellen Aufgabenhäppchen, egal ob in unseren Werkhallen oder unseren Büros.
Und alle Häppchen fließen von einem Spezialisten zum nächsten, kreuz und quer durch unsere Firma. Nicht selten gehen selbst einfache Aufgaben, wie die Beantwortung einer Frage, die Änderung einer Zeichnung oder die Erstellung eines Angebotes durch viele Hände, bis sie endgültig erledigt sind. Dabei verschwenden wir Zeit durch Übergaben, gegenseitige Störungen, Missverständnisse, Rückfragen oder einfach nur, weil die Aufgaben lange liegenbleiben, wir sie ständig neu priorisieren müssen, wir inzwischen Details vergessen haben oder wir sie am Ende in Hektik erledigen und dabei Fehler machen.
Lean hat sich zum Ziel gesetzt, Arbeit ins Fließen zu bringen, selbst wenn sie viel unterschiedlicher ist als klassische Fließbandarbeit. Entweder indem wir eigentlich unterschiedliche Aufgaben standardisieren, so dass sie doch im Takt weiterbefördert werden können, oder indem wir die Kapazitäten immer so flexibel anpassen, dass die unterschiedlichen Aufgaben ohne Stocken oder Stillstand durch die Firma fließen. Dafür müssen wir darauf verzichten, nur darauf zu schauen, vielen Spezialisten immer mehr Aufgaben zu übertragen (Push), um sie so gut wie möglich auszulasten, weil wir damit Überlastung, Stillstände, Rückstand und Verschwendung provozieren.
Stattdessen nehmen sich viele Generalisten nach dem Ziehprinzip (Pull) immer nur dann eine neue Aufgabe aus dem übersichtlichen gemeinsamen Arbeitsvorrat, wenn sie eine Aufgabe abgeschlossen haben, und versuchen sie in einem Zug möglichst vollständig zu erledigen. Das kennen wir in Form von Wartemarkensystemen von Ämtern, Servicecentern oder Schnellrestaurants. Nur mit diesem Prinzip halten wir sehr unterschiedliche Aufgaben im Fluss und ermöglichen unseren Mitarbeitern, sich zunächst vom Spezialisten zum Generalisten zu entwickeln und danach auch ihr eigentliches Potential zu entdecken, indem sie sich immer mal für etwas andere Aufgaben entscheiden. Liegt deutlich mehr Arbeit an als üblich, fassen zusätzliche Mitarbeiter mit an, ähnlich wie im Supermarkt weitere Kassen oder im Kino weitere Schalter öffnen.
Ist die Arbeit erst einmal im Fluss, wird sie erledigt, ohne dass es weiterer Planungen oder Priorisierungen bedarf. Im Anschluss kümmert sich jeder Mitarbeiter darum, seine Aufgaben zu beobachten und immer schneller zu beenden. Und zwar dadurch, dass er Verschwendung vermeidet, einzelne Schritte automatisiert bzw. Aktivitäten oder Wege einspart. Dafür entwickelt er allein oder mit Kollegen neue Ideen und probiert sie direkt aus, so dass sich die Arbeitserledigung schrittweise immer weiter verbessert (Kaizen), ohne dass es hierfür Listen, Gremien, Meetings oder Genehmigungen bedarf.
Eine Lean-Organisation ist sehr flexibel und konzentriert sich nicht mehr auf die möglichst hohe Auslastung jedes Mitarbeiters, sondern auf die schnellstmögliche Erledigung jeder Aufgabe, egal wie unterschiedlich sie sind. Als Nebeneffekt sind die Mitarbeiter deutlich höher qualifiziert und haben viel mehr Spaß an der Arbeit. Diese Systeme sind mindestens doppelt so produktiv und dreimal so schnell wie klassische Push-Systeme mit Arbeitsteilung, Spezialisten und festen Zuständigkeiten. Die Einführung von Lean reduziert die Lieferzeiten, verbessert die Margen und reduziert den Druck, zusätzliche Fachkräfte zu finden, um der vorhandenen Arbeit Herr zu werden. Damit ist Lean die Lösung.
Bild: unsplash, Marcelo Leal