Wir alle versuchen, unser Wissen und Können fortlaufend weiterzuentwickeln. Und manchmal stoßen wir dabei auf etwas – egal wie klein es sein mag – da sagen wir „wow – das ist wichtig“. Und so ist es mir in den vergangenen Wochen ergangen. Da habe ich viel darüber nachgedacht, welche Implikationen das haben könnte, wenn wir immer nur zu viel Arbeit haben und deshalb fortwährend unsere Aufgaben priorisieren, so dass manche von ihnen eine Ewigkeit auf ihre Erledigung warten müssen.
Ich nahm an, dass das irgendwie auch mit der Beobachtung zusammenhängen muss, dass ausschließlich die dringenden Aufgaben rund um unsere Kunden, Aufträge und Technologie unser Leben bestimmen, während die nicht dringenden scheinbar nie erledigt werden. Ein Umstand, den jeder kennt, der Organisations-, Strategie- oder nur ganz allgemein Veränderungsarbeit leisten will. Wenn er wieder mal feststellt, dass es im Projekt nicht vorangeht. Neulich sprach ein Kunde seufzend von „unserer paranoiden Operationalität“ – als ginge es um eine schlechte Angewohnheit – und in einem Artikel las ich den Aufruf, wir müssten uns von der „Tyrannei des Dringenden“ befreien.
Also womit haben wir es zu tun? Tatsächlich mit einer schlechten Gewohnheit? Oder sind wir vielleicht nur Opfer, die gar nichts dazukönnen? Weder noch, denke ich. Und fand es lohnenswert, weiter darüber nachzudenken. Denn heute werden wir mit immer mehr Möglichkeiten, Krisen und Nachrichten bombardiert, die uns höchste Dringlichkeit signalisieren. Gleichzeitig haben wir immer mehr der Anlass, langfristig zu denken, unser Geschäft zu entwickeln und unsere Organisation entsprechend anzupassen.
Bei meinen Überlegungen stellte ich fortan eine These auf, die sich als so hilfreich herausstellte, dass ich sie – natürlich mit einem fetten Augenzwinkern – Körners Gesetz nennen möchte. Es lautet:
Nicht dringende Aufgaben werden nie ohne Zwang erledigt.
Die Begründung fand ich bei der Deklination der drei betrieblichen Motivatoren: Wir bevorzugen immer den kurzfristigen, direkten, selbst kleinsten Schub für unsere Sicherheit, persönliche Anerkennung sowie den höheren Zweck, dem wir zu dienen überzeugt sind. Während der Nutzen bei nicht dringlichen Aufgaben zwar größer wäre, aber immer nur indirekt und verzögert eintreten wird. Und auch nur dann, wenn uns nicht die Puste ausgeht oder jemand anders uns die Lorbeeren wegschnappt.
Noch viel entscheidender sind aber die Folgen bei Nichterledigung: Während wir bei dringlichen Aufgaben den Schaden für unsere Firma und/oder unser Ansehen greifbar vor uns sehen und schon heute erleiden würden, ist der Schaden bei nicht dringenden Aufgaben ebenso diffus wie überhaupt unsicher.
In einem Bild zusammengefasst: Wenn früher der Säbelzahntiger vor uns stand, haben wir uns immer dafür entschieden, wegzulaufen. Statt ihm zuzurufen „warte einen Moment, ich muss erst das Feld zu Ende bestellen, damit wir auch nächstes Jahr etwas zu essen haben.“ Und erst wenn beides erledigt war, haben wir uns um die Befestigung unseres Lagers zum Schutz vor weiteren Tierangriffen gekümmert.
Wenn unser Handeln tatsächlich so naheliegend und natürlich ist wie ein Naturgesetz, dann sehen wir plötzlich viel klarer, warum wir kein schlechtes Gewissen mehr haben müssen. Und warum gute Vorsätze, Methoden wie Eisenhower-Priorisierung und Apelle („wir müssen da mehr Gas geben!“) nicht fruchten. Und das Versanden von Veränderungsprojekten keinesfalls daran liegt, dass Meier ein Chaot ist und mit seinem designierten Nachfolger alles nur besser werden kann.
Viel wichtiger als das Verständnis für uns und unsere Kollegen ist aber die praktische Implikation: Wenn dem so ist, dann kann es schlicht nicht ausreichen, to-do-Listen zu führen, in denen dringliche und nicht dringliche Aufgaben friedlich Seite an Seite stehen und uns damit suggerieren, sie hätten alle dieselbe Chance auf Erledigung. Sind ja alle gleichermaßen vereinbart und besprochen! Nein, dann müssen wir jeweils überlegen, wie wir für die nicht dringlichen „den kleinen Schubser“, den Zwang konstruieren, damit das auch tatsächlich klappen kann.
Hierfür gibt es einige sehr wirksame Kniffe, mit denen wir uns liebevoll zur Erledigung unserer nicht dringenden Aufgaben bringen können:
- Wir fixieren ein künstliches Datum, wann wir die Aufgabe, die eigentlich kein Enddatum hat, unbedingt erledigt werden muss.
- Wir reservieren in unserem Kalender Zeit („Dienstags 14 Uhr“) oder legen uns gleich Gewohnheiten zu („jeden Tag zwischen 15 und 16 Uhr“ oder „freitags mache ich nur…“).
- Wir teilen nicht dringliche Aufgaben in kleine Schritte, die wir so formulieren, dass wir den allerersten von ihnen ganz konkret heute erledigen können, weshalb wir bereits heute einen Belohnungsschub ernten können.
- Wir stellen für jede nicht dringliche Aufgabe eine argumentative Verknüpfung von unserem übergeordneten Ziel zu der Aufgabe her und stellen uns emotional erlebbar vor, wie es sein wird, wenn wir unser Ziel erreichen.
- Wir gehen die Aufgabe gemeinsam mit Kollegen an oder versprechen die Erledigung Dritten oder unserem Chef und erhöhen damit die Verbindlichkeit nach außen.
- Wir schließen eine Wette ab, dass wir die Erledigung schaffen.
- Wir nehmen uns vor, uns nach der Erledigung selbst zu belohnen.
- Wir beauftragen einen Berater, mit dessen Hilfe wir leichter Erfolge feiern und der mit seinen permanten Mahnungen und seinem Honorar den Schmerz der Nichterledigung verstärkt.
- Und am besten von allen: Durch Delegation oder die Anwendung von Lean-Prinzipien reduzieren wir die Zahl dringlicher Aufgaben, um dem Rest auf natürliche Weise mehr Raum zu geben.
Am Ende ist es egal, was wir davon tun. Hauptsache wir verbessern künstlich und von außen die Motivation für die Erledigung unserer nicht dringlichen Aufgaben. Damit tragen wir zum Gelingen unserer Organisationsprojekte bei und schaffen es sogar, mancher seit der Erfindung des Papyrus vor sich hingammelnden Aufgabe auf unserer to-do-Liste neues Leben einzuhauchen. Dank Körners Gesetz… 😉
Bild: unsplash, freestocks.org