In den letzten Tagen war es wieder zu hören (die Leser mögen mir verzeihen, dass mir entfallen ist, welchem medialen Erreger wir die Aussage verdanken): Das größte Problem deutscher Firmen sei der Fachkräftemangel. Das klingt angenehm flauschig, ist aber falsch. Und dennoch birgt der Satz ein Körnchen Wahrheit: Denn das größte Problem unserer Zeit ist, dass uns im Tagesrhythmus ein neues größtes Problem gereicht wird, von denen aber die allermeisten keine sind. Sonst wären sie nicht so vergänglich wie Tiefdruckgebiete und nüchtern kalkuliert hätte uns das eine oder andere von ihnen bereits umgebracht.
Bevor ich weiter abschweife: Das wirklich größte Problem aller größten Probleme unserer Zeit ist, dass wir abstumpfen und vor lauter eigenem Quaken die zunehmende Wärme in unserem Kochtopf als angenehm mollig empfinden. Halb-wissenschaftliche-Hyperexperten nennen das „boiling frog syndrom“, wenn der Frosch gar nicht merkt, dass das Wasser, in dem er sitzt, wärmer und wärmer wird. Bis es heißt: Game Over.
Bezogen auf unsere Firmen ist dieser Umstand zu allererst den deutschen Kunden geschuldet. Die sind sich noch gar nicht so recht sicher, ob sich dieses Internet durchsetzen wird, und bezeichnen sich gerne als „technisch nicht so affin“, womit sie ihre chronisch labile Beziehung zum Fortschritt verniedlichen. Bevor der sie überfordern kann, konzentrieren sie sich lieber darauf, mit dem Erwerb zweifelhafter Schnäppchen ihren Wohlstand zu erhalten (wer das für widersprüchlich hält, darf gerne einen nicht-öffentlichen Protestbrief an die Zunft der Werbetreibenden verfassen. Aber bitte nicht abschicken).
So ändert sich das Kaufverhalten in vielen Branchen viel langsamer, als es das könnte. Als Firma verlieren wir hier und da mal ein paar Prozent Marge oder Umsatz oder beides zusammen. Aber mit ein paar Events und Rabattaktionen wird das schon wieder. Prosperieren geht anders, aber wir kommen über die Runden und behalten dank der niedrigen Zinsen auch noch ein paar Euro über. Und weil das schon ein paar Jahre so geht, halten wir das für ganz normal.
Dabei übersehen wir, dass im Hintergrund der technische Fortschritt galoppiert und 7 Milliarden Menschen immer schneller immer mehr Neues einfällt. Und wenn 2019 in einem Monat mehr Neues in die Welt gekommen ist als im gesamten Leben unserer Großeltern, dann ist es in demselben Maße wahrscheinlicher, dass auch etwas für unser Geschäft dabei gewesen ist. An jedem Tag, an dem wir das ignorieren und an dem die Veränderungsrate (V) der Welt größer ist als unsere Anpassungsrate (A), wächst der Abstand zum maximal Möglichen weiter an. Und mit unseren technischen Schulden steigt auch der Investitionsbedarf: Wer in den Branchen an der Front in den letzten Jahren aus der Substanz gelebt hat, kann bereits heute problemlos einige Jahre 10% seines Umsatzes investieren, um wieder ganz nach vorne zu kommen.
Investieren ist dabei nicht mehr in dem Sinne zu verstehen, dass Maschinen gekauft und abgeschrieben werden. Vielmehr werden neue Produkte ersonnen, ausprobiert, vermarktet, neue Kunden angesprochen, Mitarbeiter gefunden und gefördert, Software entwickelt und neue Länder und Regionen erobert. Und weil das viel Mut erfordert, sich auf nur einen von vielen möglichen Weg festzulegen, suchen immer mehr Eigentümer nach Erwerbern, denen sie ihr Geschäft verkaufen können. Wobei das nicht einfach ist: Denn die campieren vor den Türen der Startups, immer auf der Jagd nach dem Hauptgewinn, bei dem ihr Einsatz durch die Decke geht.
Damit ist das größte aller größten Probleme, dass wir uns auf Schnäppchen und Spiele konzentrieren, während sich die wirtschaftliche Substanz unserer Firmen auf breiter Front auflöst. Was wir deshalb am dringendsten brauchen, sind private Investitionen. Und da, wo wir sie fördern können, wäre die schwarze Null am besten begraben. Denn neue Internetkabel zu verlegen, schafft nur einmal Einkommen, sie zu nutzen, immer wieder. Und für alle, die sich dabei ertappen, nochmal in Ruhe abwägen zu wollen: Nein, 2020 wird es nicht besser werden. Die gute alte Zeit, sie wird nie zurückkommen. Also genießen Sie lieber die Feiertage, kommen gut Sie ins neue Jahr und dann investieren Sie mutig in Ihre Zukunft! Viel Erfolg dabei!