Als neulich die Erhöhung der Krankenhauskapazitäten diskutiert wurde, hieß es ebenso schnell wie empört „das geht nicht, pflegen kann nicht jeder!“ Natürlich nicht, aber müssen wir in der Krise die Maßstäbe geordneter Zeiten ansetzen? Es könnte sich als Problem erweisen, wenn nur Perfektion zählt und alles einklagbar oder zumindest klagefest gelöst werden muss. Ich stelle mir vor, wir hätten diese Maßstäbe in den Feldlazaretten des 2. Weltkriegs angelegt. Dann hätte der Krieg wohl abgesagt werden müssen.
Selbst in den Firmen ist das Verlangen nach Perfektion dominant. Wann immer jemand mit seiner Arbeit nicht hinterherkommt und wir ihm anbieten, ihm einen Kollegen, eine Leihkraft oder Praktikanten zur Unterstützung zu geben, schlägt er unser Hilfsangebot aus. Und sagt ebenfalls „der kann das doch gar nicht!“, „das kostet mich mehr Zeit, als es mir hilft“ oder „um bei uns arbeiten zu können, braucht man Jahre…“ Dahinter steckt der Gedanke, dass nur dann optimal gearbeitet wird, wenn die Aufgaben derjenige übernimmt, der sie perfekt beherrscht.
Die Klage „der kann das nicht“ wird aus einer zweiten Richtung verstärkt. So stützt der Gewohnheits-Talker Richard David Precht seine Verelendungstheorien auf die Behauptung, dass man aus einem Busfahrer kein Rennpferd machen könne. Einmal Busfahrer, immer Busfahrer, gewissermaßen. Einmal entlassen, für immer verloren. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, verhalten sich die Arbeitgeber ebenso: Sie suchen für ihre Vakanzen ausschließlich Menschen, die exakt das Gesuchte schon einmal gemacht haben. Mit dem Kalkül, dann mit höchster Wahrscheinlichkeit die richtige Wahl zu treffen. Play it again, Sam.
Dieses starre und perfektionistische Denken hindert uns in mehrerlei Hinsicht unnötig am Erfolg. Zum einen ist die Wahrscheinlichkeit, in einer sich rasch verändernden Welt jemanden zu finden, der etwas Neuartiges schon einmal gemacht hat, extrem gering. Zum anderen verhindern wir, dass unsere Aufgaben zwar nicht perfekt, aber immerhin rechtzeitig erledigt werden.
Und wir verzichten auf den Willen und das Potential der Menschen, sich weiterzuentwickeln. Wer will denn Zeit seines Lebens dieselben Aufgaben machen? Wer sagt denn, dass ein guter Busfahrer nicht auch ein guter Entertainer, Mechaniker oder Vermieter sein kann? Natürlich ist Erfahrung eine Menge wert. Aber in einer sich verändernden Welt kommt es nicht nur darauf an, etwas bereits perfekt zu können. Sondern auch darauf, im richtigen Moment zur Stelle zu sein, und sich mit Intelligenz, Lernwillen und Tatkraft einzubringen und mit dem Neuen zurecht zu finden. Um irgendwann voller Stolz zu sagen: „Jetzt kann ich´s!“
Und als Firma profitieren wir genauso davon. Die Entwicklung des Mitarbeiters ist die Basis für seine neue Perfektion, mit der sich die Leistungsfähigkeit des gesamten Teams verbessert. Und dank seiner Flexibilität ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass wir gute Lösungen zu neuen Herausforderungen finden.
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