In dieser Woche hat sich unsere örtliche Agile User Group wieder getroffen. Und so engagiert, nett und cool die Leute dort sind („ich bin nur zum Essen hier“), so sehr überrascht mich immer wieder das schwach ausgeprägte organisatorische Urteilsvermögen, das gerade bei Agilisten die Regel scheint. Verbunden mit dem Format „Open Space“ (keiner hat sich vorher Gedanken gemacht, uns wird schon etwas einfallen, womit wir die Standardagenda füllen können) entstehen nur selten und zufällig wertvolle neue Erkenntnisse.
Das persönliche Urteilsvermögen korreliert naturgemäß stark mit dem Grad der organisatorischen Meisterschaft: Auf der ersten Stufe sind wir lediglich in der Lage, unsere Probleme zu beschreiben. Diese Ebene beherrschen die allermeisten von uns bereits nach kurzer Zeit im Berufsleben. Auf der zweiten Ebene können wir die zu einem Problem passende Methode benennen (Keine Transparenz? Probiert doch mal ein Daily Meeting). Das ist schon ein wesentlicher Fortschritt. Problematisch ist, wenn das Denken auf dieser Stufe endet, ohne zu erkennen, dass hier noch keinesfalls Schluss sein kann. Denn, um Methoden zu kennen, braucht man heute nur ein bisschen im Internet zu surfen oder eines der vielen Bücher zum Thema zu lesen. Da steht letztlich alles drin.
Allerdings können wir eine vermittelte Methode nur exakt so anwenden, wie wir das gelesen haben. Im Falle von Widerständen oder spezifischen Bedingungen wissen wir nicht, worauf es wirklich ankommt und wie zielführende Anpassungen aussehen können. Dabei sind die Möglichkeiten zur Variation oft grenzenlos. Wir brauchen dann im besten Fall mehrere Anläufe, bis wir unserem Ziel näher kommen und die Begleiterscheinungen, Irritationen oder Verschwendungen tolerierbar werden. Im schlimmsten Fall wird die Methode dabei verstümmelt, bis sie nicht mehr funktioniert oder wir verwerfen sie komplett. Der agile Methodenkoffer verbreitet sich exakt auf diese Weise. Das ermöglicht zwar ein eine hohe Verbreitungsgeschwindigkeit, allerdings zu dem Preis der geringeren langfristigen Akzeptanz.
Auf der dritten Ebene wissen wir, dass es immer mehrere Alternativen gibt, ein Ziel zu erreichen, eine Methode anzuwenden bzw. das konkrete Vorgehen auszugestalten. Wir sind dann in der Lage, die verschiedenen Dimensionen der Methode zu erläutern und kennen ihre jeweiligen Vor- und Nachteile. Und wir können sagen, welche der Lösungen am häufigsten gewählt wird, worauf zu achten ist oder was in Kombination der wesentlichen Parameter theoretisch besonders gut geeignet ist. Das ist in etwa das Niveau, auf dem wir mit etwas Glück in einem gehobenen Elektronikmarkt beraten werden. Auf dieser Stufe verstehen wir deutlich besser, was warum geschieht und die Wahrscheinlichkeit, dass eine Lösung wirksam ist, d.h. passt und akzeptiert bzw. angewandt wird, steigt deutlich an. Viele Fachleute verharren auf dieser Ebene, weil sie die theoretische Erörterung bevorzugen oder weil ihnen die Rückkopplung aus der echten Anwendung fehlt.
Auf der vierten Ebene kommt dann langjährige Übung, Variation von Perspektiven und Anwendung in einer Vielzahl von Kontexten ins Spiel. Wir sind in der Lage, auf Basis der konkreten Aufgabenstellungen, der Dynamik der jeweiligen Arbeit, der Motivationslage der Beteiligten und unseres profunden Erfahrungswissens über die Wirkung von Lösungen im Idealfall auf Anhieb die richtige Lösung und ein zielführendes Vorgehen auszuwählen. Wie ein Scharfschütze, der nicht nur weiß, dass er ein Präzisionsgewehr benötigt, der nicht nur ein solches Gewehr bedienen kann, der nicht nur die Parameter kennt, die einzubeziehen sind und erklären kann, welche Gewehre präziser sind als andere, sondern der aufgrund seiner Erfahrung Terrain, Wind, Wetter, Kugel, Gewehr und seinen Körper in einer realen Situation derart treffend einzuschätzen in der Lage ist, dass er mit dem ersten Schuss trifft. Damit wird auch klar, dass eine Lösung auf Ebene 4 direktes Erleben voraussetzt und nicht darauf vertraut, was jemand zweiter Hand über seine Organisation oder Kollegen zu berichten weiß. Auf Ebene 4 finden wir deutlich schneller Lösungen, benötigen annähernd keine Iterationen und haben genau die Erfolgserlebnisse, die zu einer hohen Veränderungsdynamik führen.
Im täglichen Leben begegnen wir heute überwiegend Experten, die von einer Methode lesen, ihre Anwendung plausibel finden und sie dann liken oder anderen zur Anwendung empfehlen. Oder davon erzählen, wie genau sie selber eine gelernte Methode anwenden. Das ist alles Stufe 2. Wenn wir sie nach Details oder „warum“ fragen, sagen sie „weil das so ist“ (oder „weiß ich nicht“, wenn sie ehrlich sind). Für die, die darüber hinaus wollen, gibt es nur einen Weg: Beobachten, lesen, zuhören, fragen, denken und anwenden. Immer wieder. Und dabei lernen. In möglichst vielen unterschiedlichen Kontexten. Dafür muss man Spaß haben an Organisation und Innovation. Und ehe jemand danach fragt: Auf dem Weg zu höchster Meisterschaft ist es wie immer im Leben, da gibt es keine Abkürzungen.
Bild: unsplash, Thao Le Hoang