DAS Thema in der Industrie ist die Digitalisierung. Wie gehen wir erfolgreich damit um?
Wir stehen vor der größten Herausforderung aller Zeiten. Gemessen daran, tun wir viel zu wenig. Denn wenn wir den Abstand zwischen Firma und dem, was technisch möglich ist, reduzieren wollen, muss die Rate unserer Anpassung (A) größer sein als die Veränderung (V) unserer Umwelt. In Zeiten, in denen in einem Monat mehr Neues in die Welt kommt als im kompletten Leben unserer Großeltern, geben wir besser richtig Gas.
Was macht die Anpassung so schwer?
Medien und Enthusiasten diskutieren nur das Neueste. Das ist sehr weit weg von unserer Realität. Sobald die Lösungen einsetzbar sind, tun wir uns schwer mit der Vielfalt des Angebots. Bei vielen Firmen reichen die Gewinne nicht mehr aus, um das zu finanzieren, was nötig wäre. Oder traditionelle Denkweisen stehen ihnen im Weg.
Welche Denkweisen sind das?
Alle wiederkehrenden Aufgaben in Büros und Fabriken werden Maschinen, Computer, Apps oder spezialisierte Dienstleister übernehmen, oft zu einem Bruchteil der Kosten. Was uns bleibt, ist der kreative Teil der Arbeit, wie wir unsere Produkte und Leistungen weiterentwickeln und was wir als nächstes automatisieren. Kreativität löst Wiederholung ab, was den Charakter unserer Arbeit komplett verändert. Alle müssen flexibel neue Aufgaben übernehmen und brauchen gleichzeitig mehr Orientierung. Das setzt neue organisatorische Lösungen und einen anderen Umgang miteinander voraus. Starre Strukturen, feste Stellen, Chef-Anweisungen und der Wunsch nach Lebenspositionen sind dann eher hinderlich. Gleiches gilt für unser bisheriges Verständnis von Produktivität, denn immer mehr arbeiten in Vertrieb, Entwicklung, IT und Personal und sind im klassischen Sinne unproduktiv. Und bei vielen Investitionen lässt sich der Pay-Back im Vorfeld nur noch vermuten.
Worauf müssen wir noch achten?
Technologie hilft nicht nur zu automatisieren, sie verändert auch Preissignale, weshalb sich die Nachfrage verschiebt. Komfort, Einfachheit, Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit werden vielfach kaufentscheidend. Wollen wir auf der Höhe der Zeit bleiben, müssen alle Mitarbeiter aktiv kommunizieren, zu Scouts werden und auch Vertrieb machen. Firmen, die im Boom ihr Neukundengeschäft vernachlässigt haben, müssen dieses wieder als besten verfügbaren Zukunftsindikator nutzen.
Wie können Firmen den Einstieg finden?
Meine Kunden beseitigen organisatorische Verschwendungen, um Freiräume für die Weiterentwicklung zu schaffen. Dann rate ich dazu, einen Digitalisierungsbeauftragten zu ernennen, der sich um den Umbau kümmert. Der IT- und strukturaffin, ein bisschen unbequem und zugleich in der Lage ist, mit einfachen Worten für das Neue zu begeistern. Das klingt anspruchsvoll, ist aber nicht anspruchsvoller als die Aufgabe selbst. Mit klaren Zielen und einem üppigen Innovations-Budget ausgestattet machen sie sich dann zusammen an die Arbeit. Denn wenn A > V sein soll, müssen alle neugierig darauf sein, jeden Tag Neues zu tun.
Dieses Interview mit Ingo Körner ist erschienen in der Ausgabe Mrz/Apr 2020 der Zeitung „Die Wirtschaft“ der NWZ.