Wer würde ernsthaft behaupten, dass ein Fußballspiel im Fernsehen ebenso so beeindruckend ist, wie im Stadion dabei zu sein? Oder ein Porno genauso gut wie echter Sex? Niemand. Und dennoch erklären uns arbeitsferne Philosophen und von Reiseverboten gebeutelte Pandemieverlierer, dass mit der steigenden Verbreitung von Home-Office – samt zeitweisen Home-Office-Gebot – ein weiterer verheißungsvoller Schritt zur Befreiung der Mitarbeitenden gemacht sei: Seht, er gab uns eine Sandale, das ist sein Zeichen, lasst uns seinem Zeichen folgen!
Es gibt sogar das Konzept des „smart working“, als dessen wesentliche Komponente – insbesondere in Großunternehmen – die flexible Arbeit von zu Hause verstanden wird. In Italien ist smart working sogar unter exakt diesem eher unitalienischen anmutenden Begriff gesetzlich definiert und verankert (81/2017). Damit haben wir ein Konzept und seit der Pandemie auch eine Realität, mit der sich Büro- und Fahrtkosten sparen lassen und der wir einen wohlklingenden Namen verpasst haben. Dann ist doch alles Bestens, oder?
Nein, leider nicht. Arbeit ist zuallererst dann Arbeit, wenn sie Wertschöpfung ist, das heißt, für den Kunden mehr Wert erzeugt. Deshalb prüfen wir besser erst, inwieweit es sich tatsächlich um Arbeit handelt, bevor wir beurteilen können, wie „smart“ das Treiben tatsächlich ist. Und zwar für alle drei Formen wertschöpfender Tätigkeiten, an denen Menschen beteiligt sind: Zuerst ist da, – derzeit noch – bekannt aus Produktion, Handwerk und Logistik, die Handarbeit. Es ist einleuchtend, dass diese Tätigkeiten überwiegend vor Ort, beim Kunden oder in einer Produktionshalle erbracht werden und insoweit bereits vom Grunde her nicht für Home-Office geeignet sind.
In Büros wird wiederkehrende Denkarbeit vor Bildschirmen erbracht, sei es zur Datenerfassung, -eingabe oder -veränderung. Wer einen solchen Job heute von zu Hause erbringen darf, kann sich glücklich schätzen. Kurzfristig. Denn es muss ihm bewusst sein, dass diese Tätigkeit mit ein bisschen unternehmerischer Weitsicht und Disziplin bereits heute technisch ersetzbar wäre und nach vorherrschenden Prognosen spätestens im Jahr 2030 von Computern ausgeführt wird. Wenn nicht in der heute bestehenden Firma, dann in einer, die sie bis dahin abgelöst und ihr Geschäftsmodell direkt digital gedacht und aufgebaut hat. Amazon frisst uns alle.
Gerne wird an dieser Stelle angeführt, wir müssten doch den ganzen Tag über Probleme lösen, und das könnten wir genauso gut von zu Hause. Das stimmt wohl, wobei genau besehen die täglichen Probleme dadurch entstehen, dass keine Standards vorhanden sind, in großen arbeitsteiligen Beschlusskreisen Ausnahmen gebilligt werden, oder Arbeitsfehler, Verspätungen oder andere Versäumnisse vorgelagerter Stellen beseitigt werden müssen. Selbstbeschäftigung, pure Verschwendung. Das ist das, womit sich der Homo officinius heutzutage wiederkehrend und zu 90% seiner Zeit beschäftigt.
In Großkonzernen sieht das dann so aus, dass im 30 Minuten-Takt ein teams-Meeting das nächste jagt. Zeit zum Vor- oder Nachbereiten gibt es nicht. Freie Minuten werden dafür gebraucht, spontane Meetings für morgen und übermorgen einzuberufen. Abzüglich Verspätung, warm-up, cool-down und vorzeitiger Verabschiedung verbleibt in jedem dieser Speed-Datings nur ein Kern von 10 Minuten für das inhaltliche Gespräch. Das reicht maximal zum Abgleich von Informationsständen und Andiskutieren von Problemen aus. Sobald unterschiedliche Standpunkte erkennbar werden, die eine Reflektion oder Diskussion verlangen würden, vertragen sich die Parteien auf ein weiteres Meeting dieser Art. Einsteigen bitte, wer noch mitmöchte, okidoki, auf geht’s in die nächste Runde.
So was ist selbstverständlich von zu Hause aus möglich, aber ganz überwiegend keine Wertschöpfung. Oder es ist – wie weiter oben ausgeführt – eine Form von Wertschöpfung, die bereits überholt ist und aufgrund vergleichsweise geringem Marktdruck und Fortschrittswillen immer noch zum Zweihundertfachen des eigentlich möglichen Aufwandes erbracht wird. Hand aufs Herz: wollen wir das, was zu 90% bis 99,5% Verschwendung darstellt, als Arbeit bezeichnen, oder eher als Beschäftigung? Beziehungsweise als „fake working“?
Kommen wir zur dritten Form von Tätigkeiten: wenn Neues entsteht. Sei es in Form der Schaffung oder Verbesserung von Standards, der Automatisierung manueller Tätigkeiten mit Robotern, Maschinen oder Computern oder neuen Produkten, Produktideen oder Geschäftsmodellen. Unser Schlüssel zur Zukunft. Da brauchen wir Kreativität und im Unterschied zur universitären Studienarbeit machen wir das idealerweise gemeinsam. Damit die Ergebnisse schneller erreicht werden oder einfach nur besser sind als das, was ein Einzelner erdenken könnte. Und bei diesen Tätigkeiten treten die Nachteile dezentraler Bildschirmkommunikation besonders zum Vorschein:
Die reduzierte Aufmerksamkeit, die wir nicht mal gerade durch den Satz „kannst Du mal Dein Laptop zumachen?“ erhöhen können.
Die fehlende Spontanität, wo wir früher auf dem Gang oder am Kaffeeautomaten viele eher zufällige Gespräche geführt haben. Oder Gespräche einfach nur einen unerwarteten Verlauf genommen haben. Damit werden zufällige Entdeckungen oder Lösungen sehr viel unwahrscheinlicher.
Fehlende Resonanz und Diskussionen, weil wir die nonverbalen Signale aller Teilnehmer nicht wahrnehmen und verarbeiten können oder aufgrund des technischen Zeitverzugs unser Einwand bereits dem nächsten Kerngedanken des Sprechenden in die Parade fahren würde.
Überhaupt sind wir vorsichtiger. Wegen dem Vertrauen. Da uns am Bildschirm nicht alle Signale auf allen Kanälen zur Verfügung stehen, ist es schwieriger, uns auf Basis einer als sicher empfundenen emotionalen Kopplung zu reiben oder sogar zu streiten. Oder Vertrauensverhältnisse auf- und ausbauen. Beispielsweise indem wir anderen ungefragt helfen oder einfach mal mit anfassen.
Die fehlende Reflektion, da jede Form der Pause umgehend mit hektischen Nachfragen „Frank, Frank, hörst Du mich noch?“ unterbunden wird. „Sagt mal, könnt Ihr Frank noch hören?“ Manchmal antworte ich dann „ich denke gerade“. Darauf folgt dann ein erleichtertes „ach so.“ Aber einmal darauf angesprochen, ist das allen unangenehm und wir fahren lieber mit der Agenda fort.
Und ist eine neue Idee erst einmal geboren, braucht es den, der sie lebendig durch die Phase des plötzlichen Kindstods bringt. Der sie mit Leidenschaft verteidigt, Budgets organisiert und jederzeit sichtbar Energie einbringt, damit das Momentum nicht verloren gehen kann. Kürzlich berichtete ein italienischer Spirituosen-Unternehmer, dass er Home-Office allein deshalb ablehne, weil dabei weit weniger Leidenschaft im Spiel sei, als er das für erforderlich halte.
In Summe läuft die Interaktion im Home-Office ganz anders ab als im persönlichen Gespräch. One-way, mehr so wie im Fernsehen, mit faderen Verläufen, weniger Interaktion und lebelosen Ergebnissen. Nur dabei, statt mittendrin, gewissermaßen. Was tatsächlich unsere Innovationsfähigkeit stark beeinträchtigt.
Jetzt wird manche Software-Firma einwenden: Aber uns gibt es seit Jahren nur virtuell und wir arbeiten immer schon global verstreut. Und es funktioniert. Das mag schon sein, aber erstens gehört das bei Euch zur DNA und Ihr habt vom ersten Tag Mechanismen entwickelt, die Nachteile abzumildern. Oder Ihr habt vielleicht viel länger gebraucht und am Ende viel schlechtere Ergebnisse erzielt, als das an einem gemeinsamen Ort persönlich möglich gewesen wäre. Wer weiß das schon? Denn das gehört bei allen Behauptungen dazu: Wir können nicht die Zeit zurückdrehen und schauen, was passiert wäre, wenn wir etwas anders gemacht hätten. Und keiner kann die Genialität nicht-stattgefundener Innovation zutreffend bewerten.
Am Ende leben alle etablierten Firmen in den Zeiten der Pandemie vom „Play it again, Sam“. Bekannte Produkte, Urteile und Arbeitsweisen werden bestmöglich weitergeführt und alle zehren von ihrer erodierenden emotionalen Substanz. Es könnte helfen, sich aktiv dagegen zu wehren, selbst wenn Verwaltung, Politiker und Philosophen das „smart working“ rosarot anpinseln und mit Steuervorteilen garnieren, denn wir alle bezahlen die leblosen Ersatzhandlungen, das fake working, mit einem Teil unserer erfolgreichen Zukunft.
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