Firmenbesuche sind ein beliebtes Mittel, um mal zu schauen, was die anderen so tun. Bei der Gelegenheit können wir Fortschritt im Einsatz beobachten, und vielleicht selber davon profitieren, wenn sich das Gesehene übernehmen lässt. Allerdings handelt es sich meist um entferntere Branchen und die gastgebenden Firmen legen ihre perfekteste Marketing-Fassade auf, um uns zu beeindrucken.
Auf den ersten Blick gelingt ihnen das regelmäßig, und wir sind beeindruckt. Neulich las ich von restlos begeisterten Besuchern einer Firma, die von einem digitalen Avatar der Eigentümer „persönlich“ begrüßt worden waren und später auch einen autonom fahrenden Roboter gesehen hatten. Beides hielten sie für valide Beweise, dass die Firma hoch innovativ sein müsse.
Aber ist das auch so? Wie können wir eigentlich beurteilen, was wir da zu sehen bekommen? Wie gut und fortschrittlich ist die Firma wirklich? Gerade organisatorisch ist das nicht einfach. Wie auch, wie in allen Lebensbereichen sind wahre Experten dünn gesät. Neulich erzählte mir ein erfahrener Beraterkollege, nach seiner Kenntnis haben nur 5% aller Mitarbeiter schon einmal Optimierungen in einer Produktion durchgeführt und nur 0,01% damit auch eine nachhaltige Verbesserung der Produktivität erreicht.
Ebenso schwierig, wie die Bewertung fällt, genauso wichtig ist es, das Gesehene und seine tatsächliche Bedeutung richtig einzuschätzen. Ansonsten verpufft der Besuchsimpuls oder es fließt unnötige Energie in eine Idee, die sich später als nicht wirtschaftlich herausstellt. Wenn beispielsweise weniger standardisiert gearbeitet wird, als es der autonom fahrende Roboter voraussetzt. Dann wird er am Ende manuell „gefüttert“ oder weitgehend ungenutzt in der Ecke stehen.
Um dieses Risiko zu vermeiden, kennen potentielle Besucher idealerweise die wesentlichen Erfolgsindizien für ihren nächsten Firmenbesuch. Dabei steht der wichtigste Maßstab für den wirtschaftlichen Erfolg regelmäßig gar nicht zur Verfügung, nämlich das Betriebsergebnis. Darin fließen alle Handlungen zusammen, und es hat dieselbe Funktion wie der Endstand beim Sport oder die erzielten Punkte beim Kartenspiel. Leider werden in der Praxis Ergebnisrechnungen mehrerer Betriebsstätten zusammengefasst, geheim gehalten oder aus steuerlichen Gründen verändert. Deshalb müssen wir wohl oder übel auf das vertrauen, was wir bei unserem Besuch zu sehen bekommen.
Zusammenarbeit:
Die Qualität der Zusammenarbeit zeigt sich insgesamt daran, ob alle daran interessiert sind, „in geordneten Verhältnissen“ zu arbeiten. Das bedeutet, dass jeder bemüht ist, es seinen Kollegen so einfach wie möglich zu machen, ihren Job gut zu erledigen. Es wird mitgedacht und Teams geben sich Regeln, die auch EINGEHALTEN werden. Das erkennen wir daran, dass alle Gegenstände ihren markierten festen Platz haben und sich alle diszipliniert so verhalten, wie es die allseits sichtbaren Regeln vorgeben.
Das Gegenteil sind allerhand Nachlässig- und Gedankenlosigkeiten. Überall stehen und liegen Dinge herum. Werk- und Fahrzeuge stehen im Weg, Müll und Reste sammeln sich in den Ecken. Über Monate eingestaubt. Ausgehängte Informationen sind veraltet. Ob sich das Desinteresse nur auf die Arbeit bezieht oder die soziale Dichte generell sehr niedrig ist, erkennt das geübte Auge am Zustand der Sozialräume, Toiletten und Küchen. Das ist nicht anders als in jeder durchschnittlichen WG. 😉
Produktivität:
Das wichtigste Indiz für eine hohe Produktivität sind produzierende Maschinen. Zählen wir einfach durch, ob Arbeitsplätze tatsächlich besetzt sind und produzieren. Jede stehende Maschine bedeutet verlorenen Umsatz und einen Kostennachteil. In den meisten Firmen sind Produktionsausfälle die Regel, weil Material oder Personal fehlen bzw. Maschinen defekt sind. Besonders wirtschaftliche Firmen haben für diese Fälle Sicherheitsbestände, Krankheitsreserven oder sogar Springer, die in den Pausen ihrer Kollegen die Arbeit fortführen.
Idealerweise erkundigen wir uns, ob die Mitarbeiter ihr Arbeitspensum in Form von Produktionsplänen und Soll- bzw. Ist-Stückzahlen des Tages kennen. Das bietet ihnen Orientierung und gibt uns einen Eindruck über die Ressourcennutzung. Am besten fragen wir auch gleich nach, in wie vielen Schichten pro Woche gearbeitet wird. Je größer die Antwort ausfällt, desto spezialisierter und insgesamt wirtschaftlicher wird gearbeitet.
Wenn in großen Stückzahlen und auf Lager produziert wird, um die Maschinenlaufzeit zu erhöhen, ist das ebenfalls kein gutes Zeichen. Dann hat sich die Firma noch nicht damit beschäftigt, die Rüstzeiten zu reduzieren. Das blockiert die Produktion, erhöht die Lagerbestände und verzögert die Auslieferung an die Kunden. Generell können wir bei unserem Besuch durchzählen, wie das Verhältnis von wartenden Behältern zu Bearbeitungsmaschinen ist. Zwei Behälter pro Maschine sind ideal, nicht selten sehen wir Fälle, in denen auf allen freien Flächen weitere Behälter stehen und auf ihre Bearbeitung warten.
Ganz generell zeugen Standards von einer niedrigen Varianz und hoher Produktivität, sowohl in Form von Material- als auch von Prozessstandards. Denn beste Lösungen werden gesucht und bestehende Arbeitsergebnisse wiederverwendet. Die Nutzung von Standards erkennen wir daran, dass Mitarbeiter sich gegenseitig vertreten, Werkzeuge und Behälter ihren definierten Platz haben und die häufigsten Materialien sogar ihren festen Stellplatz in der Produktion.
Innovation:
Innovation wird gerne vorgeführt, aber ob sie auch wirkungsvoll ist, lässt sich fast gar nicht beobachten. Idealerweise sind die Produkte innovativ. Am besten fragen wir nach der neuesten Produktgeneration, seit wann es sie gibt, welcher Umsatzanteil damit gemacht wird und welche neuen Marktsegmente damit gewonnen werden konnten.
Der Nutzen innovativer Werkzeuge, wie Roboter oder Software, lässt sich daran erkennen, dass sie tatsächlich genutzt werden. Um das herauszufinden, können wir nach dem Nutzungsgrad fragen und danach, wie genau damit gearbeitet wird und welche positiven Ergebnisse daraus folgen. Denn jeder Fortschritt ohne Wirkung ist pures Marketing. Wie bei dem Unternehmen, in dem nicht standardisiert gearbeitet wurde, aber ein moderner Flachbildschirm aufgehängt wurde, damit sich die Werker die Produktzeichnungen aufrufen konnten.
Wow, das wirkt voll modern, aber wer es nutzen will, muss erst einmal Arbeitsplatz und Werkstück verlassen, Handschuhe ausziehen und den Bildschirm entsperren. What a beautiful dead horse. Nicht selten werden Show-Innovationen nur zu kleinsten Prozentsätzen genutzt, dann heißt es auf Nachfrage gerne „das brauchen wir nur, wenn…“, gefolgt von irgendwelchen Sonderfällen. Autsch.
Auf diese Punkte zu achten, erfordert eine gewisse Übung. Aber mit der Zeit und jedem neuen Besuch schärft sich der Blick und wächst der Mut, die genannten Fragen zu stellen, auch wenn sich die Gästebetreuer nicht selten überfragt zeigen. Alternativ kann auch ein erfahrener Begleiter beim „unboxing“ helfen, um das Gesehene zu analysieren und richtig einzuordnen. Er wird im Detail noch weitere Indizien kennen und Argumente nennen können. So oder so können wir mit Hilfe der richtigen Kriterien deutlich besser hinter die Marketing-Fassade sehen und sicherhstellen, dass unsere nächsten Firmenbesuche tatsächlich zur Quelle für unseren Fortschritt werden.
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