In diesen Tagen wird viel über Corona geschrieben. Symptome, Zahlen, Spekulationen, rauf und runter. Während viele schon voreilig eine Zeitenwende ausrufen, möchte ich mich darauf beschränken, ein paar organisatorische Beobachtungen zu teilen.
Interessant ist der Umgang vieler Menschen mit der Gefahr. Gerade Ältere, die gewöhnlich ihre Tage damit füllen, sich gegenseitig mit bizarren Horrornachrichten und möglichen Gefahren zu erregen, lungern wie selbstverständlich in den Blumenmärkten herum, obwohl sie sich dort mit einer für ein Drittel von ihnen tödlichen Krankheit anstecken können.
Als jemand, der sich regelmäßig mit Veränderungen beschäftigt, frage ich mich: was müssen wir eigentlich tun, um bei einer nicht sichtbaren Gefahr eine Verhaltensänderung zu initiieren? Da denke ich sofort an ein recht frisches Erlebnis beim Kunden. Als eine Führungskraft sagte „ich nehme an, dass wir spätestens in fünf Monaten pleite sind.“ Auf meine Rückfrage „und?“ erhielt ich ein Schulterzucken und einen Blick, der sagte „können wir das später besprechen, ich habe noch sehr viel zu tun.“ Schon manches Mal wollte ich Frau Merkel empfehlen, ihre Pressekonferenzen im Säbelzahntigerkostüm zu absolvieren. Das spricht wenigstens die Urinstinkte an und würde ein Grundmaß an Wirkung garantieren. Ansonsten nehmen wir mit, dass es im Zweifel Anweisungen, Verbote und Strafen richten müssen.
Ebenfalls spannend, wie schwierig es in der aktuellen Situation ist, 80 Mio. Leute gleichmäßig mit den wichtigsten Nachrichten zu versorgen. Inzwischen hat sich das eingespielt, wir erleben ein Konzert von Ansprachen und Mitteilungen über soziale Kanäle, Zeitungen und Radio zugleich. Ein Grund zum Nachdenken für alle, die in ihrem Unternehmen der top-down-Kommunikation vertraut und sich gewundert haben, warum das nicht funktioniert. Ebenso wenig wie gelegentliche solo-Nachrichten vom Chef, mit denen er sich schnell abgenutzt und als einsamer Mahner isoliert hat. Idealerweise also machen alle top-Führungskräfte mit und blasen in abgestimmter Choreografie in dasselbe Horn.
Ein weiteres Mal erleben wir, wie wichtig es ist, exponentielle Entwicklungen oder überhaupt die Dynamik des Lebens in unser Handeln einzubeziehen. Auch wenn uns das schwerfällt. Ich kenne das besonders von Start-ups. Die sagen mir – auf ihre Ziele angesprochen – wie lange ihr Geld reicht oder wann die nächste Finanzierungsrunde ansteht. Wenn ich nachfrage „und wann müsst ihr Euer Produkt wie am Markt haben, um schneller zu sein als die anderen, die dasselbe probieren?“ ernte ich nur fragende Blicke. Ebenso frei von dynamischer Betrachtung sind Aussagen, die die aktuelle Zahl der Corona-Toten mit denen einer Grippe vergleichen. Wenn wir uns nicht vorstellen können, wie sich die Dinge weiterentwickeln werden, gleichen wir arrogant leichtsinnigen Wohlstandsbürgern, die sich anschicken, mit den Worten „ist doch nur ein Kätzchen“ im afrikanischen Busch ein Löwenbaby zu streicheln.
Sehr beunruhigend finde ich, wie schnell die Krise die Fassade globaler Marken und Communities der Nikes, Versaces oder McDonalds weggefegt hat. Jedes Völkchen macht wieder sein Ding, schließt seine Grenzen und nimmt jede Art von Andersartigkeit zum Anlass für Aggressionen, Schuldzuweisungen und Abgrenzungen. Ein deutscher Polizist beschimpft im Saarland einen französischen Grenzpendler als „Drecksfranzosen“, Busse mit Kranken werden mit Steinen beschmissen und Kreuzfahrtteilnehmer dürfen nicht von Bord, weil sie nicht den richtigen Pass haben. Das ist ein Lehrstück für jeden von uns, in den spätestens ab Sommer anstehenden existentiellen Krisen gebetsmühlenhaft die Gemeinsamkeiten zu betonen und Probleme im Team zu lösen, um das sogenannte „Othering“ im Keim zu ersticken.
Neben allen kulturell-kommunikativen Effekten lernen wir in diesen Tagen natürlich auch eine Menge über die Wirkung von Engpässen: Viele Teilsysteme unserer Gesellschaft sind auf ihr langjähriges Mittel oder gar ihre Untergrenzen ausgelegt und geraten bei Schwankungen zügig an ihre Grenzen. Normalerweise kennen wir das am besten von der Bahn (Kosename „späteschiene“). In der aktuellen Krise sind vornehmlich Krankenhäuser, Bestatter, Friedhöfe, Server, Banken und Behörden betroffen.
Wobei wir keiner der genannten Branchen einen Vorwurf machen wollen, keine Redundanzen für ein Ereignis vorgehalten zu haben, dessen Wahrscheinlichkeit das RKI mit „einmal in 100 bis 1000 Jahren“ angegeben hat. Dann bezahlen wir lieber den für unwahrscheinlich befunden Ernstfall mit 2 Bio. aus der Volks-Portokasse, um die genannten Systeme und damit das allerhöchste Gut des zivilisierten Staates, die öffentliche Ordnung, zu schützen.
Die Konsequenzen starrer bzw. minimierter Kapazitäten sind in diesem Fall übrigens nicht wesentlich anders als in vielen unserer Unternehmen. Dort brauchen wir aber keine Massengräber, weil unsere Kunden entweder warten oder sich des Wartens und der Fehler überdrüssig unseren Konkurrenten zuwenden. Ich hoffe, dass wir angesichts des Erlebten viel häufiger über Kapazitätsreserven für Überraschungen und Bedarfsschwankungen nachdenken und uns flexibler um den Bedarf unserer Kunden statt ausschließlich um unsere vorhandenen Mitarbeiter oder Budgets organisieren.
Viel geschrieben wurde bereits über die neue Flexibilität des Arbeitsortes. Home-Office wurde gerade in den ersten Wochen des Distancings von der Notlösung zum Allheilmittel gehyped. Viele fanden das cool, schwärmten von ersparten Wegen, von der Effektivität der Videokonferenzen, weil sie weniger Small Talk machten und schneller zum Punkt kamen, und von der menschlichen Wirkung der kleinen Einblicke in die Privatsphäre der Kollegen. Manche feierten schon ihren Ausstieg aus dem Hamsterrad oder freuten sich auf ein Zeitalter ohne Büros.
Schauen wir genauer hin, ist Home Office zwar gleichwertig, solange Vorhandenes reproduziert wird. Wie bei Innendiensten oder Call-Centern, wo Buchungen entgegengenommen und Fragen beantwortet werden. Diese Art von Aufgaben sollten wir aber längst den Kunden, Bots und Systemen überlassen haben.
Home Office ist hingegen nur bedingt hilfreich, wenn wir etwas unternehmen (im Wortsinn) wollen. Etwas ausprobieren. Einen Prototyp bauen. Uns ein Muster anschauen. Eine neue Lösung entwickeln. Denn das setzt voraus, dass wir uns vor Ort einen Eindruck verschaffen. Etwas im Auge behalten, einen Blick werfen, anfassen, spüren, über die Schulter schauen, mal eben rübergehen. Und nicht selten bringt erst der zufällige Dialog an der Kaffeemaschine die genialste Idee von allen.
Gleiches gilt, wenn wir neue Kunden, Lieferanten und Kollegen kennenlernen und mit ihnen stabile Beziehungen aufbauen wollen. Dann müssen wir sie erleben, sie mustern, einschätzen, vielleicht schauen, welche Schuhe sie tragen (ganz wichtig für Personaler) und wie sie sich verhalten. All das gibt es im Home-Office nicht. Im Ergebnis werden in dieser Zeit begründete Beziehungen oberflächlicher sein und gefundene Ideen sich stärker am Bekannten orientieren.
Aber das Thema Home-Office hat noch mehr zu bieten. Auf den Gedanken brachte mich der Kommunikationschef eines großen Mittelständlers, der bei LinkedIn ankündigte, mit der Heimarbeit die Absicht zu verfolgen, „die wertschöpfenden Bereiche im Unternehmen denkbar lange [zu] schützen.“ Das heißt, die eigentliche Wertschöpfung läuft weiter, obwohl Ihr alle weg seid? Ich stelle mir vor, wie den großen Unternehmen plötzlich offenbar wird, dass sie all ihre Stäbe nicht wirklich brauchen. Ich bin gespannt, welche Schlüsse sie daraus ziehen.
Insgesamt bietet die Krise allerhand Stoff zum Nachdenken und Lernen. Nicht verkehrt, dass wir gerade auch genügend Zeit dafür haben. Ebenso wie sich die Pandemie in den kommenden Monaten vom Kätzchen zum ausgewachsenen Löwen entwickeln wird, wünsche ich mir, dass die Menschheit im selben Maß daran wächst. Damit wir im Anschluss vieles besser machen, uns mit unserem blasierten Narzissmus nicht mehr so wichtig nehmen und stattdessen globale Krisen gemeinsam und kraftvoll bewältigen können. Warte mal, apropos globale Krise, da war doch noch was…
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