Während die Softwarebranche experimentiert und Intellektuelle, Berater und frustrierte Akademiker in Käfighaltung immer leidenschaftlicher neue Methoden und längst überfällige Veränderungen diskutieren, passiert im Mittelstand…? Nichts. Genau. Manche sprechen hinter vorgehaltener Hand vorsichtig von den neuen Methoden, von denen sie gehört haben und die sie gerne ausprobieren würden. Aber die meisten sind noch Lichtjahre davon entfernt: Bei einem Vortrag vor einem bunten Mix von Unternehmern (neudeutsch bei einer „Key Note“) habe ich kürzlich die Frage eingestreut „agil, wer hat schon einmal davon gehört?“ Woraufhin exakt null Zuhörer aufgezeigt haben.
Warum sollten sie auch? Läuft doch. Klar verändert sich das Geschäft und wir haben schon besser verdient. Aber nützt doch nix, geht doch allen so. Wenigstens sind die Zinsen niedrig. Und irgendwie haben wir das schon immer hinbekommen. Müssen halt alle ein bisschen mehr mit anpacken. Ja, Digitalisierung machen wir auch, wurde eh mal Zeit, ein neues ERP-System zu kaufen.
Die Protagonisten organisatorischer Erneuerung würden jetzt dringend warnen, „Ihr müsst unbedingt agil werden! Modern führen und Hierarchien abschaffen, die jungen Leute mögen das nicht.“ Och, denkt da mancher Lenker insgeheim, auf die kann ich gerne verzichten, die wollen sowieso nur pünktlich Feierabend, Sabbatical und Elternzeit machen. Und beim Konstruieren glauben sie, es sei ein Zeichen besonderer Kreativität, wenn sie Lösungen unter Umgehung geltender Naturgesetze finden.
Da fragt man sich, gibt es denn überhaupt irgendetwas, was die mittelständische Idylle trüben könnte? Anzeichen für eine echte Krise? Vielleicht. Allgemein wird es schon schwieriger, neue Mitarbeiter zu finden. Beispielsweise ist es in einfachen, aber anstrengenden Branchen oft nicht mehr genug, Mindestlohn zu zahlen. Solche Fälle lassen sich aber in der Regel noch dadurch lösen, dass die Stundenlöhne angehoben werden oder die Suche etwas kreativer betrieben wird, und neben Jobportalen und dem Arbeitsamt neue Wege der Ansprache beschritten werden. Im schlimmsten Fall kostet das halt die nächsten ein bis zwei Prozent Umsatzrendite. Aber wenigstens bleibt man im Spiel.
Wirklich kritisch wird es erst danach: Wenn die durch Sparmaßnahmen eh schon knapp aufgestellte Truppe zu bröckeln beginnt. Denn früher war das viel einfacher. Trotz Hierarchie und autoritärer Führung und manchem Zähneknirschen blieb alles recht stabil, weil jeder Job zu allererst Sicherheit vor Arbeitslosigkeit bot und die nächstbeste Alternative für einen Spezialisten gerne mal 80 km entfernt lag. Damit blieben Wechsel eher die Ausnahme. Heute werden alle Grenzen immer durchlässiger, Quereinsteiger händeringend gesucht, neue Jobs, Firmen und Beschäftigungen entstehen, und zwar kaum noch da, wo schon etwas ist, wo mit Bahnanschlüssen, Häfen oder Kraftwerken bereits gute Bedingungen vorhanden sind. Sondern überall, denn heute brauchen wir nur noch Büro, Computer und Internet. Und für Selbständige noch eine Portion Mut oben drauf. Damit entstehen Alternativen überall, flächendeckend und quasi da, wo immer wir es wollen.
Und mit den neuen Alternativen brechen immer mehr Menschen zu neuen Ufern auf. Das nehmen die Unternehmen zu Beginn noch nicht wirklich wahr. Wie beim Zurückweichen der Wasserlinie vor dem Tsunami staunen sie zunächst und freuen sich über die eine oder andere Kündigung, schließlich senkt das die Kosten und ist ein Grund, einfach die Arbeit neu zu verteilen. Und das eine oder andere auch ganz bleiben lassen. Hat sich eh nicht mehr gelohnt.
Doch wie beim Tsunami nach dem trügerischen Rückzug der Wasserspiegel brutal ansteigt, bricht im Anschluss das Unheil über die Firmen herein: Mit schöner Regelmäßigkeit, teilweise bereits im Wochentakt, kündigen ausgerechnet die Stammkräfte und Leistungsträger. Oft aus langjährigen Beschäftigungsverhältnissen heraus. Manchmal mit dem Verweis auf besseren Verdienst oder eine spannende Aufgabe in einem faszinierenden Start-up, manchmal nur deshalb, weil sie mit ihrem autoritär auftretenden und kontrollverliebten Vorgesetzten nicht (mehr) klarkommen (wollen). Und dann beginnt die Firma von innen heraus zu zerfallen. Und der Weg ist nicht mehr weit, bis Lieferverpflichtungen und Termine ernsthaft in Gefahr geraten.
Was können Mittelständler dagegen tun? Wenn Sicherheit und Anerkennung auch anderswo geboten werden und als Grund entfallen, dem Leidensdruck standzuhalten, bleibt nur noch ein Motivator übrig, der Mitarbeiter vom Wechsel abhält: Der Zweck. Der besondere Grund, warum sie sich in der Firma wohlfühlen und bereit sind, dort ihre Energie zu investieren. Und dazu gehören beileibe nicht der Kicker und die wöchentliche Massage, sondern vielmehr das Gefühl, Teil eines verschworenen Teams zu sein, das mit ganzem Herzen für die gute Sache und die Kunden kämpft. Und das alles flankiert von einem gutem Arbeitsklima, respektvoller Ansprache und herausfordernden Aufgaben. Dinge, die in klassischen Arbeitsumgebungen und Führungssystemen in der Hektik des täglichen Geschäfts gerne mal auf der Strecke bleiben.
Natürlich kann der Druck auch durch Automatisierung und Auslagerung an Standarddienstleister gemindert werden. Aber wer sich seine ganz persönliche Kündigungswelle ersparen will, macht sich besser auf, seine Firma zu einem besonderen Ort zu machen, einem Ort, an dem sich die Menschen wohlfühlen und einbringen wollen. Und am besten schon lange bevor der Tsunami eintrifft.
Bild: unsplash, Tim Marshall