Lean ist kontraintuitiv

Wenn wir heute über Lean sprechen, stellt sich insbesondere die Frage, warum es sich nicht schneller verbreitet und warum so viele Lean-Initiativen scheitern. Als Erklärung ist die Ansicht ver­brei­tet, dass Lean viel­fach „kon­train­tui­tiv“ ist, gewisser­ma­ßen dem gesun­den Men­schen­ver­stand oder bes­ser dem, was wir intui­tiv für rich­tig hal­ten, wider­spricht. Grund genug, unse­re wider­sprüch­lichs­ten Grund­über­zeu­gun­gen einmal zusammenzustellen.

  1. Je höher die Aus­las­tung, des­to höher ist die Produktivität.

Na klar, je höher der Druck auf die Leu­te ist, des­to geringer ist das Risiko, dass sie nichts zu tun haben und desto schnel­ler wer­den sie arbei­ten. Lean hin­ge­gen setzt dar­auf, die Arbeit so zu dosie­ren, dass sie immer im Fluss blei­ben kann. Damit Auf­ga­ben in einem Rutsch erle­digt wer­den und nir­gend­wo war­ten müs­sen. Selbst wenn über­ra­schend was dazwi­schen­kommt. Ober­halb von einer Aus­las­tung von 85 Pro­zent steigt das Risi­ko stark an, dass Warte- und Lie­ge­zei­ten sowie Ver­schwen­dung auf­tre­ten. In die­ser Zone ist also besondere Vor­sicht geboten.

  1. Je grö­ßer die Los­grö­ßen, des­to nied­ri­ger die Kosten.

Na klar, Rüst­kos­ten ver­tei­len sich bes­ser, das senkt die Stück­kos­ten. Lei­der geht der Vor­teil in Rauch auf, weil die Pro­duk­ti­on län­ger geblockt wird als nötig und sich die Warte- und Lie­fer­zei­ten ande­rer Auf­trä­ge ver­län­gern. Die Ver­schwen­dung durch Verspätungen, Umpla­nung, Auf­tragsunterbrechungen und überzählige Produkte steigt stark an. Lean erreicht wirtschaftliche Stückkosten bei niedrigen Losgrößen durch Minimierung der RüstZEITEN.

  1. Der­je­ni­ge über­nimmt die Aufgabe, der sie am bes­ten erle­di­gen kann.

Na klar, wer sie am bes­ten kann, wird sie auch am schnells­ten erle­di­gen kön­nen. Damit über­neh­men aber die glei­chen Leu­te immer die­sel­ben Auf­ga­ben, Spe­zia­li­sie­run­gen wer­den ver­stärkt. Nicht sel­ten bil­den sich bei den größ­ten Spe­zia­lis­ten die längs­ten War­te­schlan­gen. Die Trans­pa­renz geht ver­lo­ren, sie ver­lie­ren Zeit mit Umpla­nen und Hin- und Her­sprin­gen. Lean hin­ge­gen setzt dar­auf, mehrere Mitarbeiter ähnlich zu qualifizieren, damit sie Auf­ga­ben flexibel übernehmen und ohne Wartezeiten erledigen können. So ler­nt jeder mal dazu und alle sind mit­tel­fris­tig breiter qua­li­fi­ziert.

  1. Je frü­her wir beginnen, des­to frü­her sind wir fertig.

Na klar, rutscht ja alles nach vor­ne und alle haben mehr Zeit zur Erle­di­gung. Wenn wir das aber sys­te­ma­tisch machen, sind viel mehr Auf­ga­ben gleich­zei­tig in Bear­bei­tung, als es nötig wäre. Wir ver­lie­ren den Über­blick und brau­chen mehr Zeit zum Pla­nen und Priorisieren. Es lässt sich auch nicht mehr ver­mei­den, zwi­schen ver­schie­de­nen Auf­ga­ben hin- und her­zu­sprin­gen. Am Ende ver­lie­ren wir mehr als die Zeit, um die wir frü­her gestar­tet sind. Lean hin­ge­gen setzt dar­auf, immer nur eine Auf­ga­be gleich­zei­tig zu bear­bei­ten und so schnell wie mög­lich abzu­schlie­ßen. Idea­ler­wei­se wer­den Auf­ga­ben so spät wie mög­lich begon­nen, um frü­her fer­tig zu sein.

  1. Es ist unwirt­schaft­lich, wenn mehr als einer an einer Auf­ga­be arbeitet. 

Na klar, zwei brau­chen ja dop­pelt so lan­ge wie einer, die ste­hen sich ja nur gegen­sei­tig auf den Füßen rum und müssen sich auch noch regelmäßig abstimmen. Lean hin­ge­gen setzt dar­auf, so fokus­siert wie mög­lich zu arbei­ten, Auf­ga­ben ohne Unterbrechung abzuschließen und Fehler frühzeitig zu entdecken. Damit die Bearbeitungszeit für die Beteiligten überschaubar bleibt, arbeiten so vie­le Per­so­nen wie sinn­voll möglich zusam­men.

  1. Das machen wir so selten, das lohnt sich nicht

Na klar, für die fünf Minuten machen wir doch jetzt keinen Aufstand. Ausnahmen und manuelle Arbeit werden regelmäßig dadurch beschönigt, dass sie ja nur einmaligen oder geringen zusätzlichen Aufwand bereiten. Aus demselben Grund würden sich auch kleine Optimierungen überhaupt nicht lohnen. Lean hingegen setzt auf standardisierte Vorgehensweisen und vermeidet Ausnahmen. Verbesserungen in kleinsten Schritten machen sich dank häufiger Wiederholungen bezahlt.

  1. Bestände sind ein Zeichen schlechten Managements.

Na klar, denn das Zeug bindet doch nur unnötig Cash. Es reicht aus, Material genau für den Moment zu bestellen, in dem es gebraucht wird, „Just in time“ halt. Und die Lieferanten im Griff zu haben. Im Umkehrschluss lassen sich alle aktuell nicht benötigten Materialien reduzieren, ohne dass es negative Folgen hätte. Nach Lean steht die Produktivität der Produktion im Mittelpunkt. Dafür gilt es sicherzustellen, dass ALLE erforderlichen Materialien verfügbar sind, wenn sie gebraucht werden. Deshalb werden Unsicherheiten und Wiederbeschaffungszeiten bei der Versorgung berücksichtigt und die Reduzierung von Beständen wird durch geringere Varianz, Losgrößen, Wiederbeschaffungszeiten und die Beseitigung von Unsicherheit erreicht.

  1. Bei Unsicherheit muss detaillierter geplant werden.

Na klar, wenn wir detaillierter planen, haben wir alles im Griff. Damit steigt allerding auch der Umplanungsaufwand exponentiell, der bei jedem überraschenden Ereignis entsteht. Lean konzentriert sich darauf, Arbeitssysteme robuster zu machen, so dass sie erwartbare Überraschungen ohne Stillstände und zusätzlichen Aufwand verarbeiten können.

  1. Für Ver­bes­se­rungen gibt es Projekte.

Na klar, alle müssen ja immer was zu tun haben. Und des­halb hat auch kei­ner Zeit, sich um Ver­bes­se­rung zu küm­mern. Wenn wir was Neu­es machen oder etwas ver­bes­sern wol­len, dann suchen wir erst jeman­den, der sich Zeit dafür nehmen kann. Und setzen ein Projekt auf. Lean hin­ge­gen setzt dar­auf, dass wo und wann immer gear­bei­tet wird, Ver­bes­se­run­gen mög­lich sind, und jeder sich aktiv darum bemüht, sei­ne Arbeit zu ver­bes­sern. Ver­bes­se­rung wird zum Tagesgeschäft.

  1. Füh­rungs­kräf­te sind besonders geeignet, tägliche Pro­ble­me zu lösen.

Na klar, denn sie waren ja frü­her die bes­ten Fach­kräf­te. Des­halb kön­nen sie die Pro­ble­me auch am schnells­ten lösen. Lean hin­ge­gen setzt dar­auf, dass Pro­ble­me dort gelöst wer­den, wo sie ent­ste­hen. Vor Ort und mög­lichst von den Mit­ar­bei­tern, die betrof­fen sind. Und so gründ­lich, dass sie nie wie­der auf­tre­ten können.

Es gibt im Detail viel­leicht noch vie­le wei­te­re Unter­schie­de und Wider­sprü­che zu vor­herr­schen­den Glau­bens­sät­zen. Aber die Lis­te ist schon stark genug, um zu erklä­ren, war­um vie­le bei der ers­ten Begeg­nung irri­tiert sind oder denken, dass ihnen Lean nicht helfen kann. Bis sie es irgend­wann sel­ber erle­ben. Oder zu sehen bekom­men, wel­che Wir­kung die Ver­dopp­lung der Pro­duk­ti­vi­tät auf Arbeits­zu­frie­den­heit, Pro­dukt­prei­se, Umsät­ze und Fir­men­er­geb­nis­se hat.

Bild: unsplash.com; Stoi­ca Ionela

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