Wenn wir heute über Lean sprechen, stellt sich insbesondere die Frage, warum es sich nicht schneller verbreitet und warum so viele Lean-Initiativen scheitern. Als Erklärung ist die Ansicht verbreitet, dass Lean vielfach „kontraintuitiv“ ist, gewissermaßen dem gesunden Menschenverstand oder besser dem, was wir intuitiv für richtig halten, widerspricht. Grund genug, unsere widersprüchlichsten Grundüberzeugungen einmal zusammenzustellen.
- Je höher die Auslastung, desto höher ist die Produktivität.
Na klar, je höher der Druck auf die Leute ist, desto geringer ist das Risiko, dass sie nichts zu tun haben und desto schneller werden sie arbeiten. Lean hingegen setzt darauf, die Arbeit so zu dosieren, dass sie immer im Fluss bleiben kann. Damit Aufgaben in einem Rutsch erledigt werden und nirgendwo warten müssen. Selbst wenn überraschend was dazwischenkommt. Oberhalb von einer Auslastung von 85 Prozent steigt das Risiko stark an, dass Warte- und Liegezeiten sowie Verschwendung auftreten. In dieser Zone ist also besondere Vorsicht geboten.
- Je größer die Losgrößen, desto niedriger die Kosten.
Na klar, Rüstkosten verteilen sich besser, das senkt die Stückkosten. Leider geht der Vorteil in Rauch auf, weil die Produktion länger geblockt wird als nötig und sich die Warte- und Lieferzeiten anderer Aufträge verlängern. Die Verschwendung durch Verspätungen, Umplanung, Auftragsunterbrechungen und überzählige Produkte steigt stark an. Lean erreicht wirtschaftliche Stückkosten bei niedrigen Losgrößen durch Minimierung der RüstZEITEN.
- Derjenige übernimmt die Aufgabe, der sie am besten erledigen kann.
Na klar, wer sie am besten kann, wird sie auch am schnellsten erledigen können. Damit übernehmen aber die gleichen Leute immer dieselben Aufgaben, Spezialisierungen werden verstärkt. Nicht selten bilden sich bei den größten Spezialisten die längsten Warteschlangen. Die Transparenz geht verloren, sie verlieren Zeit mit Umplanen und Hin- und Herspringen. Lean hingegen setzt darauf, mehrere Mitarbeiter ähnlich zu qualifizieren, damit sie Aufgaben flexibel übernehmen und ohne Wartezeiten erledigen können. So lernt jeder mal dazu und alle sind mittelfristig breiter qualifiziert.
- Je früher wir beginnen, desto früher sind wir fertig.
Na klar, rutscht ja alles nach vorne und alle haben mehr Zeit zur Erledigung. Wenn wir das aber systematisch machen, sind viel mehr Aufgaben gleichzeitig in Bearbeitung, als es nötig wäre. Wir verlieren den Überblick und brauchen mehr Zeit zum Planen und Priorisieren. Es lässt sich auch nicht mehr vermeiden, zwischen verschiedenen Aufgaben hin- und herzuspringen. Am Ende verlieren wir mehr als die Zeit, um die wir früher gestartet sind. Lean hingegen setzt darauf, immer nur eine Aufgabe gleichzeitig zu bearbeiten und so schnell wie möglich abzuschließen. Idealerweise werden Aufgaben so spät wie möglich begonnen, um früher fertig zu sein.
- Es ist unwirtschaftlich, wenn mehr als einer an einer Aufgabe arbeitet.
Na klar, zwei brauchen ja doppelt so lange wie einer, die stehen sich ja nur gegenseitig auf den Füßen rum und müssen sich auch noch regelmäßig abstimmen. Lean hingegen setzt darauf, so fokussiert wie möglich zu arbeiten, Aufgaben ohne Unterbrechung abzuschließen und Fehler frühzeitig zu entdecken. Damit die Bearbeitungszeit für die Beteiligten überschaubar bleibt, arbeiten so viele Personen wie sinnvoll möglich zusammen.
- Das machen wir so selten, das lohnt sich nicht
Na klar, für die fünf Minuten machen wir doch jetzt keinen Aufstand. Ausnahmen und manuelle Arbeit werden regelmäßig dadurch beschönigt, dass sie ja nur einmaligen oder geringen zusätzlichen Aufwand bereiten. Aus demselben Grund würden sich auch kleine Optimierungen überhaupt nicht lohnen. Lean hingegen setzt auf standardisierte Vorgehensweisen und vermeidet Ausnahmen. Verbesserungen in kleinsten Schritten machen sich dank häufiger Wiederholungen bezahlt.
- Bestände sind ein Zeichen schlechten Managements.
Na klar, denn das Zeug bindet doch nur unnötig Cash. Es reicht aus, Material genau für den Moment zu bestellen, in dem es gebraucht wird, „Just in time“ halt. Und die Lieferanten im Griff zu haben. Im Umkehrschluss lassen sich alle aktuell nicht benötigten Materialien reduzieren, ohne dass es negative Folgen hätte. Nach Lean steht die Produktivität der Produktion im Mittelpunkt. Dafür gilt es sicherzustellen, dass ALLE erforderlichen Materialien verfügbar sind, wenn sie gebraucht werden. Deshalb werden Unsicherheiten und Wiederbeschaffungszeiten bei der Versorgung berücksichtigt und die Reduzierung von Beständen wird durch geringere Varianz, Losgrößen, Wiederbeschaffungszeiten und die Beseitigung von Unsicherheit erreicht.
- Bei Unsicherheit muss detaillierter geplant werden.
Na klar, wenn wir detaillierter planen, haben wir alles im Griff. Damit steigt allerding auch der Umplanungsaufwand exponentiell, der bei jedem überraschenden Ereignis entsteht. Lean konzentriert sich darauf, Arbeitssysteme robuster zu machen, so dass sie erwartbare Überraschungen ohne Stillstände und zusätzlichen Aufwand verarbeiten können.
- Für Verbesserungen gibt es Projekte.
Na klar, alle müssen ja immer was zu tun haben. Und deshalb hat auch keiner Zeit, sich um Verbesserung zu kümmern. Wenn wir was Neues machen oder etwas verbessern wollen, dann suchen wir erst jemanden, der sich Zeit dafür nehmen kann. Und setzen ein Projekt auf. Lean hingegen setzt darauf, dass wo und wann immer gearbeitet wird, Verbesserungen möglich sind, und jeder sich aktiv darum bemüht, seine Arbeit zu verbessern. Verbesserung wird zum Tagesgeschäft.
- Führungskräfte sind besonders geeignet, tägliche Probleme zu lösen.
Na klar, denn sie waren ja früher die besten Fachkräfte. Deshalb können sie die Probleme auch am schnellsten lösen. Lean hingegen setzt darauf, dass Probleme dort gelöst werden, wo sie entstehen. Vor Ort und möglichst von den Mitarbeitern, die betroffen sind. Und so gründlich, dass sie nie wieder auftreten können.
Es gibt im Detail vielleicht noch viele weitere Unterschiede und Widersprüche zu vorherrschenden Glaubenssätzen. Aber die Liste ist schon stark genug, um zu erklären, warum viele bei der ersten Begegnung irritiert sind oder denken, dass ihnen Lean nicht helfen kann. Bis sie es irgendwann selber erleben. Oder zu sehen bekommen, welche Wirkung die Verdopplung der Produktivität auf Arbeitszufriedenheit, Produktpreise, Umsätze und Firmenergebnisse hat.
Bild: unsplash.com; Stoica Ionela