Seit einigen Jahren verbreitet sich das Modewort „Prokrastination“ in unserem Sprachgebrauch. Aus dem lateinischen stammend passt es eigentlich nicht so recht in unseren eher anglizistisch angehauchten Business-Jargon. Manche sprechen deshalb lieber von „Aufschieberitis“.
Inhaltlich geht es um das wiederkehrende Verschieben und Aufschieben von anstehenden Aufgaben und Tätigkeiten. Bisweilen heißt es auch „von unangenehmen Aufgaben.“
Inzwischen wurde schon genug darüber gesagt und geschrieben, das Netz ist voll von Beiträgen und am Ende geht es immer irgendwie darum, ob es sich bei Prokrastination eher um eine spezielle Form der Faulheit – also eine schlechte Angewohnheit – handelt oder gar ein Krankheitsbild. So spricht der Spiegel von „einem Trendleiden“ und nicht selten wird eine Verbindung zu anerkannten Krankheitsbildern wie ADHS hergestellt.
Einig sind sich alle in der Bedeutung des Phänomens, und erste Stimmen fordern eine Eindämmung, wie die Zeitschrift Brand eins, die vor kurzem recht tiefsinnig verlauten ließ, Prokrastination müsse wieder Fremdwort werden. Aber wenn es darum geht, wie genau das gehen soll, da werden die Stimmen leiser.
Wir möchten dem Mainstream eine Gegenthese entgegensetzen: Was ist eigentlich, wenn Prokrastination gar keine (schlechte) Angewohnheit oder Krankheit ist, sondern eine natürliche und sinnvolle Reaktion auf die jeweils herrschenden Rahmenbedingungen?
Zur Verdeutlichung möchte ich eine Analogie anführen: Stellen wir uns einen Familienvater vor, gestandene 2 m groß, der mit seiner Familie ein Haus in Norddeutschland bewohnt. Im Land der Starkwinde und tief hängenden Dachrinnen. Jeden Abend, wenn er nach Hause kommt, zieht er den Kopf ein, wenn er die Haustür durchschreitet. Würde seine Frau dann sagen „dieses Kopfeinziehen ist aber eine schlechte Angewohnheit von Dir. Vielleicht solltest Du mal zum Arzt gehen.“ Dann würde er entgegnen „Na, was bleibt mir übrig, wenn die Dachrinne so tief hängt und ich mich nicht stoßen will?“ Und natürlich würde sie ihm zustimmen.
Genauso verhält es sich mit unseren Aufgaben. Auch da gibt es für gewöhnlich eine Menge gute Gründe, sie aufzuschieben, wenn unser System uns das nahelegt:
Wenn wir uns vornehmen, Aufgaben zu erledigen, die wir – ohne uns dessen bewusst zu sein – nur machen wollen, wenn wir mal nichts zu tun haben (nice to-dos), dann ist es nur konsequent, sie nicht zu erledigen, so lange wir gut zu tun haben.
Wenn wir Aufgaben so groß formulieren, dass wir gar nicht wissen, wie wir sie angehen wollen oder sollen („Masterarbeit“, „Haus bauen“) ist es ebenfalls logisch, dass wir sie da belassen, wo sie sind. Eh wir uns schon beim Start verhaspeln.
Gleiches gilt, wenn Aufgaben so lange dauern, dass wir wissen, dass wir sie gar nicht in Ruhe und sorgfältig am Stück erledigen können, ohne immer wieder unterbrochen zu werden. Auch dann tun wir gut daran, das Chaos gar nicht erst vom Zaun zu brechen.
Wenn wir Aufgaben, die wir nicht gerne machen, nicht mal hilfsweise einen Sinn, wie z.B. einen (Zeit-)Wert verleihen. Dann machen wir sie lediglich, um dem Druck anderer nachzukommen, aber ohne einen eigenen Nutzen davon zu haben. Dann ist es sehr vernünftig, ihnen andere Aufgaben vorzuziehen, von deren Erledigung wir einen direkten Vorteil haben. In Form einer Portion positiver Hormone oder sogar handfester Vorteile.
Und ganz generell: Wenn unsere Arbeitstage immer kürzer und seltener werden, weil wir denken, es ist an der Zeit, uns mal was zu gönnen, und wir den Rest bis zum Rand mit Terminen vollstopfen, dann ist es eine simple Frage von Logik und Physik, dass wir unsere Aufgaben ein ums andere Mal verschieben müssen.
Damit sind die wesentlichen Ursachen und Angriffspunkte genannt. Wenn wir in dieser Weise unser Leben betrachten, ist das sehr hilfreich. Dann müssen wir das Thema nicht mehr weglächeln oder verschämt verdrängen, damit uns keiner für schwach oder krank hält, sondern können uns beschwingt daran machen, die Rahmenbedingungen unseres Lebens-Systems zu verändern. Auf geht´s…
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