Im aufgeheizten globalen Beratungsmarkt wird zunehmend beklagt, dass sich Lean auch nach 30 Jahren nicht als selbstverständlich führendes Organisations-Leitbild etabliert hat. Ganz im Gegenteil, überhaupt nur 2% aller Lean-Initiativen ihre Ziele erreichen. Persönlich kenne ich viele Firmen, die von Lean-Initiativen in der Vergangenheit berichten, denen aber unterwegs die Energie, persönlichen Gesichter und / oder das Geld ausgegangen sind. Firmen, die es tatsächlich schaffen, konsequent und nachhaltig nach Lean-Prinzipien zu arbeiten, dürften in der (europäischen) Wirtschaft die absolute Ausnahme sein.
Warum das so ist, dazu werden allerlei Erklärungsansätze bemüht. Drei davon möchten wir erläutern, wobei eineinhalb in der Diskussion eher selten genannt werden und damit vielleicht eine neue Perspektive schaffen können:
- Im Bemühen der eigenen persönlichen Positionierung der Berater werden Methoden und Methodentreue in den Mittelpunkt gestellt („True Lean“). Nicht selten wird im Ringen um glaubwürdigste Referenzen die größtmögliche Nähe zu den Originallösungen von Toyota herausgestellt. Dabei wird aber übersehen, dass das beim nur oberflächlich informierten Empfänger der Nachricht eher zur Distanzierung führt: „Wir machen aber keine Autos und mit Toyota haben wir nichts am Hut. Und einen Shopfloor haben wir auch nicht. Wir haben nicht einmal eine Produktion.“ Es würde der Diskussion vielleicht guttun, anstelle von Schlagwörtern und Methoden die Wirkweisen und physikalischen Vorteile von Fluss für Wertschöpfung, Kunden und Mitarbeiter in den Mittelpunkt der Argumentation zu stellen.
- In den höheren Etagen eher klassisch organisierter Firmen liegt das Hauptaugenmerk häufig auf der Bewältigung täglicher Krisen und der bestmöglichen Beeinflussung strategischer Richtungsentscheidungen. Selbst wenn sich alle Beteiligten bei ihrem Aufstieg fast ausnahmslos durch die wertschöpfenden Ebenen ihrer oder anderer Firmen bewegt haben, den Faible dafür, Wertschöpfung zu gestalten, haben sich die wenigsten erhalten. Und wenn wir die Besetzung der Gremien anschauen: Neben CEO, CFO ist selten Platz für einen Organisationsexperten. Am ehesten gibt es noch einen COO, der sich aber als gelernter Techniker am ehesten als Produkt-Entwicklungs- und Produktionstechnik-Experte versteht. Damit werden Organisationsinitiativen entweder oben beschlossen („weil unser Wettbewerb das auch macht“) und dann zur lokalen Umsetzung nach unten weitergegeben, oder direkt lokal initiiert. Für ein umfassendes Kulturprojekt und eine gemeinsame langfristige Initiative ist in solchen Konstellationen überhaupt kein Raum gegeben.
- Mit der Massenindustrialisierung Anfang des letzten Jahrhunderts wurde der Zeitlohn zum dominierenden Entlohnungsmodell. Das war überall dort kein Problem, wo es Fließbänder und einen Produktionstakt gab. Sie haben automatisch für (Zwangs-)Produktivität gesorgt. Nun ist es heute leider so, dass in 90% aller Arbeitsumgebungen kein Takt vorhanden ist. Das ist mindestens überall dort der Fall, wo die Arbeitsinhalte ständig variieren. Und sei es nur ein ganz klein wenig. Natürlich können wir jetzt darum ringen, ob ein Takt nicht möglich ist oder nur konsequent organisiert werden müsste. Geschenkt. Praktisch ist es heute so, dass Produktivität bei Zeitlohn ersatzweise durch einen möglichst hohen Arbeitsdruck angestrebt wird. Sei es in Form kurzfristiger Endtermine, sei es in Form höchster Auslastung, nicht selten über 100% hinaus. Und wo wir gewohnt sind, unsere Mitarbeiter über das Leistbare auszulasten, um unserer Vorstellung von Produktivität Rechnung zu tragen, da stirbt der Fluss zuerst und verbleibt naturgemäß kein Platz für Redundanzen, geplantes Vorgehen oder kontinuierliche Verbesserung der Arbeitsweisen.
Zusammengefasst könnte sich Lean deshalb mit der Verbreitung so schwer tun, weil neben dem toyotalastigen Marketing wesentliche praktische Verhaltensweisen der Einführung entgegen stehen. Wenn dem so wäre, dann würde es nicht reichen, einfach nur nach einem modernen Anstrich zu suchen. Dann würde es vielmehr einer sehr einfachen und grundlegenden Kommunikationsstrategie bedürfen, die der Lean-Bewegung auf breiter Front den kulturellen Boden bereiten müsste. Das wäre eine sehr herausfordernde Aufgabe, die uns nur allen gemeinsam gelingen kann.
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